Es ist Mittwochvormittag, kurz nach zehn. Meine S-Bahn hatte mal wieder Verspätung, das passiert in Hamburg häufiger, und ich hoffe, noch einen Sitzplatz in meiner Vorlesung zu ergattern. Eilig gehe ich die Edmund-Sivers-Allee entlang, biege rechts hinter dem Hauptgebäude ab und laufe beinahe in einen Polizisten. Abrupt bleibe ich stehen. „Wollen Sie zu der Vorlesung?“, fragt mich der junge Polizist. Hinter ihm steht ein Mannschaftstransporter der Hamburger Polizei, gemeinsam mit etwa einem Dutzend Polizisten in Schutzausrüstung. Er deutet auf einen Vorlesungssaal, in dem nicht meine Veranstaltung stattfindet. Ich verneine. „Dann kann ich Sie hier nicht durchlassen“, ich drehe mich um und gehe einen Umweg. Nach wenigen Metern höre ich hinter mir Sirenen, mehrere Polizeiwagen rollen auf das Gelände der Universität. Langsam frage ich mich, was hier eigentlich los ist, sehe dann ein Transparent mit der Aufschrift „Keinen Raum den geistigen Brandstifterinnen“ und plötzlich erinnere ich mich wieder: Heute ist wieder eine Lehrveranstaltung von Bernd Lucke nach seiner Rückkehr an die Universität Hamburg.
Bernd Lucke war bereits Professor für Makroökonomie in Hamburg, bevor er 2013 aufgrund seiner politischen Karriere beurlaubt wurde. Damals gründete er mit Mitstreitern die Partei „Alternative für Deutschland“, damals vor allem eurokritisch und liberal, für mehr Unabhängigkeit Deutschlands, gegen Zwänge der Europäischen Union und für einen freieren Markt mit weniger Regularien. Konservativ, aber demokratisch. Doch mit der Zeit veränderte sich das Gesicht der Partei, konservative Werte und Funktionsträger wurden der Reihe nach ausgetauscht durch rechte, aus eurokritisch wurde im Rahmen der Flüchtlingskrise zur Mitte des Jahrzehnts ausländerhassend und die Partei wurde gemeinhin als rechtspopulistisch betrachtet. Spätestens als sich im Juli 2015 Frauke Petry gegen Lucke in der Wahl zum Parteivorsitzenden durchsetzte, schwand der liberalkonservative Flügel der Partei und Lucke trat aus. „Ich habe sicherlich Fehler gemacht und zu den größten gehört zweifellos, dass ich zu spät erkannt habe, in welchem Umfang Mitglieder in die Partei drängten, die die AfD zu einer Protest- und Wutbürgerpartei umgestalten wollen.“, schrieb er dazu in einer Erklärung und gründete daraufhin eine neue Partei, die Liberalkonservativen Reformer (LKR) – mit wenig Erfolg.
Nach seinem Austritt aus der AfD, distanzierte Lucke sich von der rechten Gesinnung vieler ehemaliger Parteigenossen, doch auch er selbst stand schon auf Grund von umstrittenen Äußerungen in der Kritik. So attestierte er seiner damaligen Partei eine erfreuliche Nähe zur Pegida-Bewegung oder bezeichnete ungebildete Flüchtlinge als „sozialen Bodensatz, der lebenslang in unseren Sozialsystemen verharrt“.
Deswegen wird jetzt gegen ihn demonstriert. Gerade die Studentenschaft der Hamburger Universität gilt bundesweit als besonders weit links. Bei den anstehenden Studierendenparlamentswahlen gehört die Gruppe der Jusos noch zu den am wenigsten linken Kräften. Der Widerstand gegen neue Vorlesungen von Lucke war also durchaus absehbar, geradezu erwartbar. Doch die Entscheidung, die Professur wieder aufzunehmen, lag einzig und allein bei Lucke selbst. Wie eine Sprecherin der Uni mitteilte, hätte das Universitätspräsidium nicht die Befugnisse, über das Beschäftigungsverhältnis ihrer Professoren zu entscheiden. Dies sei Aufgabe, des Bildungsbehörde. Und die könne Professoren nur bei verfassungswidrigen Aussagen aus dem Beamtenverhältnis entfernen.
Die Universität Hamburg hat eine lange Geschichte im studentischen Kampf gegen rechte Strömungen. 1967 enthüllten Studenten ein Transparent mit der Aufschrift „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ zunächst unbemerkt vor dem Universitätspräsidenten, um auf die aus ihrer Sicht mangelnde Aufarbeitung der NS-Zeit an der Universität hinzuweisen. Die Aktion ist erregte bundesweite Aufmerksamkeit. Das Originaltransparent ist heute im Unimuseum zu sehen.
Der Campus ist seit der ersten Lucke-Vorlesung gespalten. Die einen fordern die Einhaltung der Meinungsfreiheit, andere fühlen sich von Luckes Aussagen zum Teil persönlich verletzt. Viele fordern eine Auseinandersetzung mit der Person Lucke, seiner Lehre und seinen Äußerungen, lehnen aber gewaltsame Verhinderungen von Vorlesungen ab. Makroökonomie II bei Prof. Dr. Lucke war zunächst eine Pflichtveranstaltung für VWL-Studenten, nach zahlreichen Beschwerden hat die Uni nun aber eine Alternativveranstaltung bereitgestellt. Vielen Studenten reicht das nicht. Sie argumentieren, Lucke hätte mit der Gründung der AfD und der Akzeptanz von rechtem Gedankengut innerhalb der Partei die Tore geöffnet, die zum Teil rechtsextreme Meinungen in Deutschland salonfähig gemacht haben.
Und so versuchen Studenten Woche für Woche, Makroökonomie II zu verhindern. Die ersten beiden Male erfolgreich, Lucke wurde mit Papier beworfen, beschimpft und musste schließlich den Vorlesungssaal verlassen. Seit dem dritten Mal erhält er Polizeischutz. Nur angemeldete Studenten erhalten unter Vorlage ihres Personalausweises Zutritt zum Saal, allein der Polizeieinsatz der dritten Vorlesung, kostete die Stadt Hamburg einen sechsstelligen Betrag. Daraufhin bot die Universität Lucke an, seine Vorlesungen künftig online zu halten, er lehnte ab. Auch nach Gesprächen mit Studierendengruppen zeigte sich keine Aussicht auf eine Einigung.
Lucke wird also erstmal weiter unterrichten. Es bleibt abzuwarten, ob die Proteste gegen ihn weiter anhalten, oder langsam verstummen werden. Streitthema wird er in jedem Fall bleiben.
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