Kommentar
Es scheint wie eine Strafe Gottes, weil die Menschen es einfach nicht verstehen wollen. Gerade erst war die Aufregung um den Coronaausbruch in der Fleischfabrik von Westfleisch im Münsterland verklungen, da sorgt ein neuer Skandal für Aufsehen. Am Mittwoch den 17. Juni kam die erste Meldung. Von ca. 1000 Tests unter Mitarbeiter der Tönnies Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück gab es über 650 positive Befunde. Der Kreis Gütersloh schloss Schulen und Kitas und stellte gut 7.000 Menschen unter Quarantäne. Dazu sind mobile Teams aus Dolmetschern und Polizei unterwegs, ganze Wohnhäuser werden mit Bauzäunen abgesperrt, doch ein allgemeiner Lockdown kommt über eine Woche danach. In den Augen der meisten viel zu spät.. Mittlerweile ist die Zahl der Infizierten aufüber 1.500 gestiegen (Stand: 22.06.2020 19:01, ZEIT Online). Das Geschehen sei klar bei der Firma Tönnies lokalisierbar, rechtfertigte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet die späte Entscheidung.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht das anders. In seinen Augen hätte sofort ein regionaler Lockdown durchgesetzt werden müssen, immerhin hätten sich Bund und Länder auf Kontakt- und Ausgehbeschränkungen geeinigt, sollte es mehr als 50 Neuinfektionen pro Woche auf 100.000 Einwohner geben. Diese Zahl war längst überschritten. Aber man diskutierte lieber herum, während Kitas und Schulen sofort geschlossen wurden, die Fitnesstudios und Restaurants aber geöffnet blieben. Durch die Medien geht ein geleaktes Video, das die Kantine bei Tönnies zeigt. Darin sitzen die Mitarbeiter eng zusammen, Abstände werden nicht eingehalten, Masken nicht getragen. Tönnies kann sich nicht entscheiden, behauptet zuerst, das Video sei vom 28. März, nach Recherchen des SWR räumen sie ein, es sei doch vom 8. April und ziehen diese Aussage später wieder zurück. Es ist ein heilloses Durcheinander dort in Rheda-Wiedenbrück und irgendwie weiß niemand so recht, was man jetzt machen sollte.
Die jüngsten Ausbrüche werfen ein unschönes Licht auf die deutsche Fleischindustrie. Wo man jahrelang die Augen verschließen konnte, fällt es jetzt auf einmal schwer, nicht hinzusehen. Plötzlich muss man sich fragen, warum es gerade möglich ist, dass man das Nackensteak für 99 Cent in den Einkaufswagen legen kann. Leider gibt es zwei Dinge, über die man mit Deutschen nicht diskutieren kann und das sind Tempolimits und billige Grillsteaks.
Doch die Kritik wird lauter. Wütende Eltern protestieren vor der Tönnies-Villa, während ihre Kinder, die jetzt wieder einmal nicht zur Schule gehen können, mit Kreide auf die Auffahrt malen. Eine Teilnehmerin bringt es auf den Punkt: „Bildung ist offenbar nicht so wichtig, wie ein Stück Fleisch zu essen.“ Die Familien sind an der Grenze ihrer Leistungskapazität und der Rest von Deutschland grillt Tönnies-Steak. Sie kritisieren die Arbeits- und Wohnbedingungen der Beschäftigten in der Fleischindustrie. Die Arbeiter kommen überwiegend aus Osteuropa, arbeiten für weniger als den Mindestlohn und wohnen zusammengepfercht in engen Sammelunterkünften. Es sind Zustände, die mag man sich in Deutschland im Jahr 2020 gar nicht ausmalen. Bisher liefen sie unter dem Radar, Dank konsequenter Lobbyarbeit, die jahrelang Einfluss auf die Politik genommen hat.
Und dann ist da noch Clemens Tönnies, der Fleischbaron. Einer, der sich mit Skandalen auskennt. Nicht nur liegt er seit Jahren im Familienstreit mit seinem Neffen Robert Tönnies, dem die anderen 50% des Milliardenunternehmens gehören, er war auch in die Cum-Ex Geschäfte verwickelt und wurde zweimal vom Bundeskartellamt zu Geldstrafen verurteilt, einmal wegen Preisabsprachen im Jahr 2016 zu 128 Millionen Euro und einmal wegen verschwiegener Unternehmensbeteiligung. 2019 fiel er durch rassistische Äußerungen auf und zog sich für drei Monate von seinem Vorstandsposten beim FC Schalke zurück. Man sollte meinen, das Ende der Fahnenstange sei erreicht. Dennoch scheffelt Clemens Tönnies weiter unaufhaltsam Geld, während in seinem Betrieb 20.000 Schweine pro Tag getötet werden. Wie das aussieht möchte man sich nicht vorstellen.
Muss man aber, denn die Konsequenz daraus ist jetzt deutlich spürbar. Und zum ersten Mal betrifft sie die Konsumenten direkt. Der Coronaausbruch in der Fleischfabrik ist nicht länger nur eine Randmeldung. Die Bürger sind direkt betroffen. Durch den Lockdown im Kreis Gütersloh und Warendorf müssen viele ihren Sommerurlaub doch noch stornieren, Hochzeiten und Geburtstage absagen, wieder von Null anfangen, während Clemens Tönnies Golf spielt. Spätestens jetzt sind die allermeisten genervt und sauer. Reicht das für ein Umdenken?
Man muss nicht sofort Veganer werden, um eine Veränderung herbeizuführen. Würden alle Deutschen ihren Fleischkonsum nur um 10% senken, dann würde das so viel Fleisch einsparen, als wenn 7 Millionen Vegetarier werden würden. Die Österreichische Gesellschaft für Ernährung (ÖGE) hat eine Studie herausgebracht mit dem Titel „Was wäre, wenn wir und anders ernähren würden„. Darin haben sie berechnet, dass unsere Ernährung mehr Treibhausgasemissionen verursacht als der gesamte PKW-Verkehr. Allein eine Umstellung der Ernährung auf die Empfehlungen der ÖGE (und darin sind immer noch 2-3 Portionen Fleisch und 1-2 Portionen Fisch pro Woche enthalten) würde 42% der in Österreich durch die Lebensmittelindustrie induzierten Treibhausgase einsparen. Die Erträge, die derzeit als Futtermittel verwendet werden, könnten 3,5 Milliarden Menschen ernähren. Das ist die halbe Weltbevölkerung.
Es geht nicht ums Missionieren. Es geht auch nicht darum, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen und zu sagen: „Aber der fliegt jedes Jahr in den Urlaub, also kann ich ja wohl Fleisch essen.“ Es geht darum, Alternativen aufzuzeigen. Alternativen für Menschen, die gerne etwas ändern wollen, aber nicht wissen wie.
Was kann man also tun, wenn man sich über den Tönnies-Konzern und all die anderen Fleischbarone ärgert, aber nicht direkt Vegetarier werden will? Das Schöne ist, es gibt eine Lösung und die heißt: Innehalten und ausprobieren. Muss es immer ein Schnitzel als Beilage sein? Braucht man jetzt unbedingt die Wurst auf dem Brot? Ginge da nicht auch etwas anderes? Es gibt so viel leckeres Essen auf der Welt. Das meiste davon schmeckt sogar noch tausend Mal besser. Testst doch einfach mal, welche Ersatzprodukte euch schmecken und da, wo ihr keine Alternativen findet, esst ihr einfach weiter Fleisch. Es gibt Produkte, auf die selbst erfahrene Fleischesser schwören, da zubereitet der Unterschied nur noch zu schmecken ist, wenn man es weiß. Proveg hat da eine gute Liste zusammengestellt und direkt einige Rezpte angehängt. Und für die, die auch das nicht mögen, gibt es super viele Rezepte, die ganz ohne Fleisch auskommen. Mut zu Neuem! Traut euch was! Wagen wir gemeinsam den Blick über den buchstäblichen Tellerrand.
[Nachtrag: 24.06.2020 Es ist noch nicht vorbei. Auch der Schlachtbetrieb des Konzerns Wiesenhof meldet nun 23 Infizierte. 1100 Mitarbeiter sollen getestet werden.]
Gleich mal rebloggt, so gut erfasst.
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Dankeschön, das freut uns sehr
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