Der 17. Juli 2020 war der 25.000 Tag im Amt der britischen Königin Elisabeth II und der erste Tag für Tom Moore als königlicher Ritter. Auf dem Anwesen des Schlosses Windsor erhob die Monarchin den 100-jährigen in den Adelsstand. Moore wird in Großbritannien mittlerweile wie ein Nationalheld gefeiert. Bei einem Spendenlauf im Rahmen der Coronakrise mit seinem Rollator konnte der Weltkriegsveteran knapp 33 Millionen Pfund, also etwa 36 Millionen Euro sammeln. Brisant ist jedoch der Empfänger der Großspende. Statt an eine private Hilfsorganisation gingen die gesamten Erlöse der Spendenkampange an die staatliche Gesundheitsagentur NHS. Warum müssen private Spender eine Agentur unterstützen, die den Grundpfeiler des durch Steuern finanzierten Healthcare-Modells darstellt? Ein kurzer Blick auf ein Gesundheitssystem in der Krise:
Das britische Gesundheitssystem unterscheidet sich grundlegend von seinem deutschen Pendant. Gesetzliche Krankenversicherer gibt es nicht, alle allgemeinen Versorgungsausgaben im primären und sekundären Bereich, also Haus- und Fachärzte, sowie Krankenhäuser, werden durch die NHS getragen. Die NHS ist eine dem Gesundheitsministerium unterstellte Agentur, die direkt durch Steuern finanziert wird. Krankenkassenbeiträge fallen somit weg, alle Bürger sind automatisch versichert. Behandlungen, die über eine allgemeine Versorgung hinausgehen, also beispielsweise kosmetisch schönere Alternativen zu regulären Zahnfüllungen, können von den Patienten selber gezahlt werden. 2015 war die NHS so ingesamt für 79,5% aller Gesundheitsausgaben in Großbritannien verantwortlich. Auch der Großteil der Angestellten im Gesundheitssystem sind direkt bei der NHS angestellt, insgesamt sind das rund 1,5 Millionen Mitarbeiter, die NHS gehört so zu den fünf größten Arbeitgebern weltweit.
Eigentlich besitzt dieses System das Potential, eine wesentlich gerechtere Versorgung anbieten zu können, als das deutsche Modell, welches noch unter Otto von Bismark entwickelt wurde. Ein Zweiklassenprinzip existiert nicht, unabhängig von Einkommen oder finanziellen Möglichkeiten, erhält jeder die selbe Behandlung. Doch Großbritannien steht vor einer enormen Wirtschaftskrise, der Austritt aus der EU sorgt für eine deutlich gedämpfte Wirtschaftsleistung. Nicht nur wird der wichtige Handel mit EU-Staaten zukünftig teurer und komplizierter, viele internationale Unternehmen, die ihren europäischen Sitz aufgrund der englischen Sprache und der guten Infrastruktur in britischen Städten wählten, verlagern ihre Geschäftsstellen jetzt ins europäische Ausland. Dem Staatshaushalt gehen so große Einnahmen verloren, deshalb wird gespart. Über 100.000 Stellen bleiben in der Folge unbesetzt. Experten schätzen, dass die Investitionen in die NHS jährlich um etwa 900 Millionen Pfund (fast 1 Mrd. Euro) gesteigert werden müssten, damit das Gesundheitssystem seinen Standard halten kann.
Während der Coronakrise kommt das System so endgültig an seine Grenzen. Pro 100.000 Einwohner können in Großbritannien etwa 6,6 Patienten in Intensivbetten versorgt werden – in Deutschland sind es 28,9. In nahezu jedem britischen Krankenhaus mangelt es bis heute an hygienischer Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten.
Das Gesundheitsmodell Großbritanniens könnte eigentlich als Vorbild dienen. Kaum ein anderes System kann gleiche Behandlung und eine großflächige Versicherung in dem Ausmaß garantieren. Doch es beweist auch, wie anfällig verstaatlichte Infrastruktur in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise sein kann. Kommt dann eine Gesundheitskrise von internationalem Ausmaß hinzu, bricht das Kartenhaus zusammen. Dann braucht es ritterliche Helden wie Tom Moore.
Mehr von Spotlight zum Thema Privatisierung in Krankenhäusern findet ihr hier.
Ein Kommentar