Etwas mehr als einen Monat ist es nun her, dass in Deutschland die große Impfkampagne gegen COVID-19 gestartet ist. Gut zwei Millionen Menschen sind bis jetzt mit dem Vakzin geimpft, das entspricht etwa 2,6% der Bevölkerung (Stand: 6.2.21). Weniger als erhofft, der Impfstart war holprig. Immer wieder brachen überlastete Server bei der Terminvergabe zusammen, es gab nicht genügend Dosen, Impfzentren blieben leer. In Deutschland und der EU sorgte der Engpass für großen Unmut, preschten doch die USA, Großbritannien und Israel in rasendem Tempo voraus. Der Vorwurf, die EU hätte nicht genügend Dosen von anderen vielversprechenden Kandidaten gekauft wird immer lauter. Doch in unserem Land müssen wir uns erst einmal nur in Geduld üben. Aktuell mangelt es an der Auslieferung, nicht wirklich an den bestellten Dosen, denn Deutschland hat über 400 Millionen Impfdosen bestellt. Das sieht an anderen Orten der Welt ganz anders aus.
In Marokko ist der Impfstoff ein rares Gut. Das Land mit rund 35 Millionen Einwohner:innen wurde trotz harter Beschränkungen besonders hart von der zweiten Welle getroffen. Zu Beginn des Jahres hat auch hier das Impfen begonnen, zunächst mit dem Vakzin von AstraZeneca und jetzt auch dem chinesischen Kandidaten Sinopharm. Doch trotz der großen Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung, sind aktuell gerade einmal 200.000 Einwohner:innen geimpft, zur Verfügung stehen insgesamt nur 2 Millionen Dosen. Das Beispiel Marokko zeigt, wie viele afrikanische Staaten aktuell um Impfdosen kämpfen müssen.
„Alle Impfdosen, die derzeit produziert werden, sind bereits verkauft – denn die Amerikaner, die Europäer haben mehr gekauft, als sie brauchen. Der Großteil der Impfstoffe ist von den reichen Ländern gekauft worden.“
Azeddine Ibrahimi, Mitglied des Covid-19 Komitees in Marokko
Die afrikanischen Staaten kennen das Problem bereits. Schon beim Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 mussten sie sich bei der Beschaffung von wichtigen Hygieneprodukten und Medikamenten hinten anstellen. Auch politische Konflikte bremsen die Impfkampagnen weiter aus. Viele Bereiche der afrikanischen Länder sind aufgrund der gefährdeten Sicherheitslage durch Terrormilizen wie Boko Haram in Nigeria nicht einfach zu erreichen. Die Angst, dass mit der fortschreitenden Durchseuchung der Bevölkerung eine Mutation auftritt, gegen die die heutigen Impfungen nicht wirken, ist besonders groß.
Ruf nach Aussetzung des Patentschutzes wird lauter
Kritik an der weltweiten Impfstoffverteilung kommt auch von Amnesty International. Die Organisation forderte die Industriestaaten auf, vorübergehend den Patentschutz, also die Regelungen zum geistigen Eigentum, auszusetzen, um auch finanziell schwächeren Ländern, die nicht in der Lage sind, Millionen Dosen aufzukaufen, einen Zugang zum Impfstoff zu ermöglichen. Die Wetlhandelsorganisation (WTO) soll entsprechende Regelungen zeitlich befristet aufheben. 100 Mitgliedsstaaten unterstützen den Antrag, Staaten wie die USA, Japen und die EU lehnen ihn jedoch ab. Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, erklärte, es werde zwar öffentlich viel von internationaler Solidarität gesprochen, tatsächlich aber wenig getan. Er weist auf den Artikel 2 des UN-Sozialpakts hin, der die Regierungen aller Länder dazu verpflichtet, für die Erreichung der darin garantierten Rechte wie dem Gesundheitsschutz international zusammenzuarbeiten. Amnesty berechnete gemeinsam mit einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen, der People’s Vaccine Alliance (PVA), dass in rund 70 ärmeren Ländern im Jahr 2021 voraussichtlich nur zehn Prozent der Bevölkerung geimpft werden können, falls es nicht zu einer weltweit gerechteren Verteilung kommt. Sie zeigten außerdem auf, dass die reichen Nationen, die zusammen etwa 14% der Weltbevölkerung ausmachen, sich bereits bis zu 53% der vielversprechensten Impfstoffkandidaten geichtert haben.
Von Seiten der Industrienationen hagelt es derzeit Kritik an den Berechnungn der PVA. Zwar stimme es, dass mehr Impfstoff als für eine Zweifachimpfung der Bevölkerung notwendig bestellten worden sei, jedoch gehen die Berechnungen davon aus, dass alle Kandidaten die präklinischen und klinischen Tests bestehen. Allein Kanada hat sich bis zu 414 Millionen Dosen sieben verschiedener Firmen gesichert, bei einer Bevölkerungsanzahl von 37,6 Millionen Menschen, dies jedoch vor dem Hintergrund, dass wenn nur einer dieser Impfstoffe zugelassen wird, die gesamte Bevölkerung zweimal geimpft werden kann.
Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO erklärte, der „me-first“-Ansatz gefährde nicht nur die ärmsten und schwächsten der Welt, sondern sei auch selbstzerstörerisch. Letztlich werde eine ungerechte Verteilung der Impfstoffe die Pandemie nur verlängern. Er räumte ein, dass es richtig sei, wenn Regierungen dem eigenen Gesundheitspersonal und der ältere Bevölkerung gegenüber jungen Menschen Vorrang einräume, nicht jedoch, dass jüngere und gesündere Erwachsene recher Länder vor dem Gesundheitspersonal und älteren Menschen ärmerer Länder geimpft werden.
Die überschüssigen Dosen sollen an die Initiative COVAX gespendet werden.
Das Ziel der Initiative ist es, mit der Finanzierung von Ländern mit höherem Einkommen, Impfdosen für einkommensschwächere Staaten zur Verfügung zu stellen. Die EU hat COVAX bisher 500 Millionen Euro zugesagt. Geleitet wird die Initiative von der Impfallianz Gavi, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Koalition für Innovationen zur Vorbereitung auf Epidemien (CEPI) und berechtigt 92 Staaten vergünstigt an Impfstoffe zu gelangen.
Das COVAX Programm hat sich nach eigenen Angaben etwa 2 Milliarden Impfdosen gesichert, mit dem die am stärksten gefährdetesten 20% der ärmeren Weltbevölkerung bis Ende 2021 geimpft werden kann. Doch die Finanzierung ist nicht gesichert. Ein von COVAX beauftragter Finanzexperte warnte bereits, wenn es nicht gelinge, die fehlenden 4,9 Milliarden US-Doller in Kürze aufzutreiben, sei es möglich, dass manche der ärmeren Länder erst 2024 mit dem Impfen beginnen können.
Für viele Aktivisten ist das undenkbar. Das Programm COVAX wurde als „Feigenblatt der Reichen“ betitelt, angeblich um die „Geschäftemacherei mit Pharmakonzerenen zu verschleiern“. Wieder wird auf das Patentrecht verwiesen, was eine eigene Produktion in ärmeren Ländern verhindert. Den Pharmakonzernen wird vorgeworfen, sich bei der Auslieferung auf die Länder zu konzentrieren, bei denen sie am meisten Profit erwarten. Von dieser Aussage distanzieren sich die Konzerne. AstraZeneca habe sich dazu verpflichtet mit seinem Impfstoff „während der Pandemie“ keinen Profit zu machen und auch der US-Pharmahersteller Johnson & Johnson hatte angekündigt, keine Gewinne mit seinem Impfstoff erwirtschaften zu wollen. Kritiker befürchten jedoch, dass die schwammigen Formulierungen die Unternehmen dazu befähigen, bereits im nächsten Jahr die Preise für die raren Impfdosen anzuziehen. Anders sieht es beim Hersteller Pfizer aus. Nach Angaben des Guardian lehnte der Konzern staatliche Unterstützung der US-Regierung ab und investierte zwei Milliarden Dollar aus eigenen Rücklagen für die Zusammenarbeit mit dem deutschen Unternehmen BioNTech. Es wird also Profit gemacht, jedoch nicht in der für das Pharamunternehmen üblichen Gewinnspanne.
Menschen in Krisensituationen denken nicht immer ethisch
Wie also sollte eine gerechte Verteilung des Impfstoffe aussehen? Damit befasst sich der Medizinethiker Ole Norheim. In einem Interview mit der Zeit sagte der Professor für Public Health von der norwegischen Universität Bergen, es gebe kein absolutes Kriterium, nachdem man die Verteilung der Impfstoffe priorisieren kann, sondern nur ethische Abwägungen. Ethisch überlege, wie man am wirksamsten den meisten Menschen helfen könne. Besonders kontrovers sei hierbei, ob die statistische Zahl der nicht gelebten Lebensjahre ins Gewicht fallen sollten. In dem Fall würde die Impfung junger Menschen vor der älterer priorisiert. Auf der anderen Seite steige aber das Risiko, an Covid-19 zu sterben, mit dem Alter.
Norheim beschreibt drei fundamentale Werte, nach denen das Problem der Verteilungsgerechtigkeit betrachtet werden sollte. Erstens, den Schaden zu begrenzen, indem Menschenleben geschützt werden; zweitens, denjenigen, die kaum Schutz haben, dabei Vorrang zu geben und drittens, allen Menschen unabhängig von Faktoren wie Geschlecht und Religion den Zugang zum Impfstoff zu ermöglichen. Viel wichtiger sei aber zu bedenken, dass es drei verschiedene Arten von Schaden gebe: die tödliche Gefahr für das Individuum, die Überlastung der Gesundheitssystem und der ökonomische Schaden. „Die Verteilung ist eine ethische Frage, und Menschen in Krisensituationen denken nicht immer ethisch. Umso wichtiger ist es, überhaupt ethische Kriterien zu benennen, damit Gesellschaften und Staaten abwägen können“, so Norheim.
Der Blick auf Marokko und andere afrikanische Länder zeigt: Ethische Überlegungen sind spät dran. Mutationen entstehen vor allem dort, wo viele Menschen infiziert sind, wie sich bereits in Südafrika und Brasilien zeigte. Diese Mutationen sind es, die das Potenzial haben, das gesamtglobale Pandemiegeschehen noch einmal komplett auf den Kopf zu stellen und daher gilt es eigentlich, sie nach besten Möglichkeiten zu unterbinden. Doch davon sieht man in Marokko bisher wenig. Jetzt setzt das Land auf Impfstoffe, die von der WHO noch nicht zugelassen sind, etwa den chinesischen Kandidaten Sinopharm oder Sputnik V aus Russland. Tedros Adhanom Ghebreyesus findet dafür nur harte Worte: „Um es ganz klar zu sagen: Die Welt steht vor einem moralischen Versagen katastrophalen Ausmaßes, und der Preis dafür werden Menschenleben und Existenzen in den ärmsten Ländern der Welt sein.“
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