Kommentar
Es ist wahrscheinlicher, dass ich an einem Herzinfarkt sterbe, als mein bester Freund. Es ist wahrscheinlicher, dass Krebs bei mir nicht erkannt wird, als bei meinem Vater. Es ist wahrscheinlicher, dass ich eine Überdosierung Medikamente verschrieben bekomme, als dass dasselbe meinem Kommilitonen passiert.
Es gab eine Zeit, in der dachte ich, dass jeder Mensch, wenn er oder sie eine Arztpraxis aufsucht, gleich gut behandelt wird. Heute bin ich 21 Jahre alt und weiß, dass das nicht stimmt. Die oben genannten Beispiele sind alle ausnahmslos wahr und das nicht etwa, weil ich eine schlechte Fitness hätte, ausschließlich Heilpraktiker:innen aufsuchen würde oder Beipackzettel nicht lesen könnte. Der einzige Grund ist, dass ich eine Frau bin und mein Vater, mein bester Freund und mein Studienkollege sind es nicht.
Das Problem trägt den Namen „Gender Health Gap“ und beschreibt die Unterschiede in der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in der Medizin. Eigentlich drückt der Begriff aus, was seit vielen Jahren bekannt ist – die Medizin gehört den Männern. Seit Beginn der Medizinforschung werden fast ausschließlich männliche Probanden für Medikamenten- und andere medizinische Studien ausgewählt. In den letzten Jahren hat sich daran nicht viel geändert. Selbst zwischen 2018 und 2019 wurde die Hälfte aller neu zugelassenen Arzneimittel an männlichen Versuchsgruppen getestet. Sogar bei Labormäusen werden häufiger männliche Mäuse ausgewählt. Dabei haben weibliche Mäuse einen Hormonzyklus, der dem der menschlichen Frau sehr ähnlich ist. Angeblich macht genau dieser Überschuss die Testergebnisse unzuverlässiger, weswegen vermehrt auf männliche Mäuse zurückgegriffen wird. Diese Behauptung konnte jedoch widerlegt werden.
Frauen und Männer unterscheiden sich in zahlreichen körperlichen Eigenschaften, unter anderem der Muskel- und Knochenmasse, dem Stoffwechsel und dem Herz-Kreislaufsystem. Es ist absolut irrsinnig zu meinen, man könne Krankheiten bei ihnen genau gleich behandeln. Doch nach dem Contergan Skandal in den 50er und 60er Jahren, bei dem ein scheinbar harmloses Medikament bei schwangeren Frauen das ungeborene Kind schädigte, scheut sich die Pharmaindustrie, Frauen in Medikamentenstudien einzuschließen. Dass sich die Medizin so lange am Mann orientiert hat, hat deutliche Spuren hinterlassen.
Heute kann ich mir als Frau nicht sicher sein, ob ich auch als Frau medizinisch behandelt werde.
Ein bekanntes Beispiel ist das Schlafmittel Zolpidem, welches viele Jahre lang mit 10mg dosiert wurde. Was jedoch niemand bedachte war, dass Frauen das Medikament langsamer abbauten. Nachdem es vermehrt zu Verkehrsunfällen unter Frauen im Zusammenhang mit Zolpidem kam, wurde das Medikament kurzzeitig vom Markt genommen, bis es erneut zugelassen wurde. Diesmal mit einer korrigierten Dosierung von 5mg für Frauen.
Eine Fehldosierung von etwa der doppelten Menge kann ein ganzes Leben zerstören. In Deutschland gibt es fast 2 Millionen Medikamentenabhängige. Davon sind 70% Frauen. Am häufigsten wurde die Abhängigkeit durch Antidepressiva und Schlafmittel ausgelöst, die Frauen zwei- bis dreimal so häufig verschrieben wurden wie Männern. Das erinnert an die 60er Jahre, als viele Frauen entdeckten, dass ihnen das Hausfrauendasein nicht genügte, sie jedoch aufgrund der underdrückenden Strukturen anstatt ihre Erfüllung zu finden, an Depressionen erkrankten. In den folgenden Jahren wurde massenhaft Valium verschrieben, ein hoch abhängigmachendes Benzodiazepin. Besonders Frauen waren davon betroffen und rutschten in die Abhängigkeit.
Bei 6 von 11 Krebsarten müssen Frauen länger auf eine Diagnose warten
Doch nicht nur Medikamente werden maßgeblich von der Gender Health Gap beeinflusst. Auch die Diagnosevergabe fällt für Frauen deutlich schlechter aus. Der Herzinfarkt gilt als Männerkrankheit, aber auch unter Frauen gehört er zu den häufigsten Todesursachen. Das Problem ist, dass Frauen weniger häufig die „typsichen“ Symptome zeigen, da diese anhand von Männern klassifiziert wurden. Selbst wenn diese auftreten, werden sie häufig auf psychische Probleme oder die Wechseljahre geschoben. Zusätzlich scheint die Überlebenswahrscheinlichkeit für eine Frau davon abhängig zu sein, an wen sie sich wenden – sie überleben häufiger, wenn sie von einer Ärztin behandelt werden. Auch die Therapie von Herzinfarkten ist an Männer angepasst. Frauen reagieren mit deutlich mehr Nebenwirkungen auf Betablocker, eine wirkliche Alternative gibt es jedoch nicht.
Ähnlich sieht es bei Tumoren aus. Beispielsweise dauert es bei Frauen signifikant länger, bis ein Hirntumor erkannt wurde, wie eine Studie der „Brain Tumor Charity“ zeigte. Hirntumore sind hier keine Ausnahme. Bei 6 von 11 Krebsarten müssen Frauen länger auf eine Diagnose warten, fand eine andere britische Studie heraus. Frauen bekamen zunächst oft eine Fehldiagnose, die besagte, ihre Symptome seien auf eine Depression oder Stress zurückzuführen.
Das Problem mit der Cisnormativität
Die Studie zeigte auch, dass es noch weitere Faktoren gibt, die die Qualität einer Diagnose beeinflussen. Menschen mit geringerem Einkommen mussten ebenfalls besonders lange warten. Dasselbe findet man für Menschen mit geringerem Bildungsniveau, Behinderung, Angehörige ethnischer Minderheiten oder anderer Geschlechtsidentität. Die Medizin hat ein großes Problem mit der sogenannten Cisnormativität.
Cisnormativität bedeutet, dass bei Anamnese und Diagnosestellung automatisch davon ausgegangen wird, dass die behandelte Person cisgeschlechtlich ist, also ihr bei Geburt zugewiesenes Geschlecht mit ihrer Genderidentität übereinstimmt. Das führt dazu, dass trans* Personen im Gesundheitswesen nicht nur mit unangemessenen Kommentaren und Hass diskriminiert werden, sondern auch noch häufiger Fehldiagnosen erhalten. Da die medizinische Ausbildung das Thema Geschlechtsidentität und Bedürfnisse von trans* und non-binären Personen quasi gar nicht abdeckt, mangelt es bei Behandelnden an Fachwissen, Kontakten zur Überweisung und Komfort im Umgang mit Betroffenen. Die Konsequenz daraus ist, dass viele trans* und non-binäre Personen Arztbesuche meiden und dadurch häufiger von psychischen und körperlichen Krankheiten betroffen sind, diese sich häufiger zu chronischen Krankheiten entwickeln und sie ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko aufweisen.
Was muss sich also ändern?
Es wird klar, dass es in der Medizin so nicht weitergehen kann. Deshalb hat sich eine neue Disziplin entwickelt – die Gendermedizin. Diese beschäftigen sich damit, wie man die Gender Health Gap in Zukunft schließen kann. Zu ihren Forderungen zählen unter anderem mehr Probandinnen, aber auch mehr Transparenz, da Forscher:innen bisher nicht dazu verpflichtet waren, das Geschlecht der Studienteilnehmenden anzugeben. Zusätzlich setzen sie sich für eine Überarbeitung der Dosierungsangaben ein und fordern, dass die Gendermedizin an Universitäten mehr in den Fokus rückt. In Deutschland gibt es mit der Berliner Charité nur eine einzige medizinische Fakultät mit einem Institut für Geschlechterforschung. Im Studium wird das Thema an den meisten Universitäten nur punktuell behandelt und in vielen Lehrbüchern fehlt es komplett.
Übrigens zeigt sich die Gender Health Gap auch in der Covid-19 Pandemie. Atemmasken werden an Männergesichtern normiert. Daher sind sie für viele Frauen zu groß und es bleiben häufig Lücken, was die Schutzwirkung rapide sinken lässt.
Die Medizin ist im Zugzwang. Es kann nicht sein, dass Frauen und Gender Minderheiten im Jahr 2021 auf Grund ihrer Identität Fehldiagnosen erhalten, durch Überdosierungen in Abhängigkeit geraten oder einfach übersehen werden. Man sollte meinen, da alle Menschen nach den Gesetzen der Menschenrechte gleich sind, sollten sie auch die gleiche Qualität in der medizinischen Behandlung erfahren. Leider kann die westliche Medizin heute noch nicht von sich behaupten, diesem Anspruch gerecht zu werden.