An dem Tag, an dem die Schokonikoläuse flogen, hatte ich Spätschicht. Es war ein Feiertag und als junger, unverheirateter und kinderloser Pfleger sollte ich auf einer Station einspringen. Hier herrschte aufgrund der Feiertage und diverser Krankheitsausfälle ein noch gravierenderer Personalmangel als ohnehin schon. Die Stimmung war gedrückt. Auf die 20 Patient:innen kamen an diesem Tag nur vier Pflegende. Ich ahnte bereits, dass dies kein angenehmer Dienst werden würde. Trotzdem schlug ich mich anfangs noch sehr gut durch. Obwohl ich mich auf dieser Station nicht gut auskannte, konnte ich mir einen Überblick über meine Patient:innen verschaffen. Doch gegen Nachmittag verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand einiger Patient:innen. Viele von Ihnen hatten erhebliche neurologische Schäden. Als weitere Neuaufnahmen zusätzliche Zeit kosteten, wurde die Situation immer unruhiger. So riss bei einem Kollegen schließlich der Geduldsfaden. Nachdem er wiederholt von einem Patienten angeklingelt wurde, entlud sich seine Frustration an den Schokonikoläusen. Im hohen Bogen flogen sie durch die Station.
Die Schokonikoläuse blieben zu meiner Überraschung unversehrt. Nicht so verhält es sich jedoch mit der Gesundheit der Pflegenden und der Patient:innen. Ein Großteil des Pflegepersonals in Deutschland arbeitet am Limit. Die Coronapandemie wirkt hierbei lediglich als Brennglas auf ein System, welches so gravierende Mängel aufweist, dass es das Leben der Patient:innen ernsthaft gefährdet. Krankenpfleger Alexander Jorde, der durch seine mutigen Fragen an Angela Merkel in der Wahlarena 2017 bekannt wurde, sagte gegenüber dem SPIEGEL:
„Es ist jetzt schon so, dass Schwerkranke abgewiesen werden, weil nicht genug Pflegepersonal da ist. Es ist jetzt schon so, dass wir eine der Berufsgruppen mit den meisten Krankheitstagen sind. Es sterben jeden Tag Menschen aufgrund dieses Mangels.“
Alexander Jorde
Sätze, die vielleicht im ersten Moment wie ein aufgebauschter Hilferuf klingen, sind leider traurige Realität. Mehrere empirische Studien zeigen, dass sich der Personalmangel an Kliniken negativ auf den Krankheitsverlauf der Patient:innen auswirkt. So scheint ein niedriger Personalschlüssel beispielsweise mit einem erhöhten Risiko für Thrombosen (Blutgerinnsel), Pneumonien (Lungenentzündungen) und Harnwegsinfekten einherzugehen. Außerdem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Patient:innen fixiert und somit in Ihrer Freiheit eingeschränkt werden, wenn die Zeit und das Personal fehlt, um ihnen Zuwendung entgegenzubringen.
Auch ich selbst kann und möchte mich nicht davon freisprechen, bereits aufgrund von Personal- und Zeitmangel Fehler gemacht zu haben. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Situation, in welcher ich nachts wach wurde und mir eingefallen ist, dass ich die Medikamente einer Patient:in zwar vorbereitet hatte, jedoch vergessen hatte diese über die Magensonde zu verabreichen. Der psychische Druck in solchen Situationen ist enorm, da potenziell das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht.
Um sich mehr unter dem so häufig genutzten Begriff „Personalmangel“ vorstellen zu können, lohnt ein Blick in die Statistik. Im Europa-Vergleich fällt auf, dass Deutschland das Land ist, in welchem eine Pflegekraft im Durchschnitt die meisten Patient:innen betreut. Während auf eine Pflegekraft in Deutschland im Schnitt 13 Patient:innen kommen, sind es in Belgien ca. 11 und in den Niederlanden sogar nur 7 Patient:innen pro Pflegekraft.

Doch wie konnte es zu solch einem gravierenden Ausmaß des Pflegenotstades in Deutschland kommen? – Die Antwort ist: Es gibt eine Reihe von Gründen. Zum einen führt die Privatisierung des Gesundheitssystems zu einem stärkeren Wettbewerb unter den Kliniken. Dadurch, dass private Träger an den Löhnen von Pflegenden und am Personalschlüssel sparen, sehen sich staatlich geführte Kliniken gezwungen mitzuziehen. Zum anderen mangelt es an Wertschätzung, gerechter Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen in der Pflege. Viele Pflegekräfte verlassen aufgrund der hohen physischen und psychischen Belastung den Beruf. Allein die Station, auf der ich arbeite, verließen dieses Jahr vier Pflegekräfte. Eine Studie des DIP (Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung) von 2016 fand heraus, dass ungefähr 50% der Pflegenden auf einer Intensivstation (ICU) mindestens mehrfach im Jahr darüber nachdenken , den Pflegeberuf zu verlassen.

Trotz dieser Unzufriedenheit findet man – im Gegensatz zu anderen Branchen – in der Pflege kaum eine Organisation in Gewerkschaften oder Berufsverbänden. Viel zu wenig Pflegekräfte engagieren sich berufspolitisch. Sicherlich auch, weil es an einer einflussreichen Gewerkschaft für Pflegende, ähnlich dem Marburger Bund für Ärzt:innen, fehlt. Im Jahr 2020 gründete sich aufgrund dieses Mangels zwar der Bochumer Bund, diesem fehlt es jedoch noch an Einfluss und Mitglieder:innen. Der Pflege mangelt es außerdem an Streikoptionen. Die moralischen Hürden Patient:innen sich selbst zu überlassen sind größer als beispielsweise eine Lok in der Garage zu lassen, wenn die Zugführer:innen für Tariferhöhungen streiken.
Die prekäre Lage wird zudem zunehmend von Zeitarbeitsfirmen ausgenutzt, welche mit hohen Löhnen und flexiblen Arbeitszeiten locken. Pflegende werden über diese Firmen kurzfristig an Stationen vermittelt, die einen besonders starken Mangel haben. Diese Springer werden aufgrund des Mangels häufig nur unzureichend eingearbeitet, was zur Entprofessionalisierung der Pflege führt. Auch ich selbst habe es schon oft erlebt, dass Pflegende aus Zeitarbeitsfirmen eine unzureichende Einarbeitung erfahren haben und daraus Fehler entstanden sind. Zudem erzeugen die höheren Löhne der Zeitarbeiter:innen wachsende Unzufriedenheit des internen Personals. Weitere Gründe, wie der demographische Wandel und die sinkende Übernahme von Pflege durch Angehörige, wirken zudem wie Brandbeschleuniger auf ein ohnehin schon brennendes Gesundheitssystem.
Zwar zeigt sich, mitbedingt durch die Corona-Pandemie, ein zunehmendes mediales Interesse am vorherrschenden Pflegenotstand. Beispielsweise in der Reihe „Joko und Klaas gegen ProSieben“, in welcher in der sehenswerten Ausgabe vom 31.3.2021 eine Krankenpflegerin des UKM begleitet wurde.
Doch ohne eine stärkere, einheitlichere Vernetzung der Pflegenden selbst werden diese Stimmen wohl auch in Zukunft von der Politik ignoriert werden können. Die Pflegebranche ist also auch in der Verantwortung sich selbst eine Stimme zu geben. Diese Aufgabe ist schwer zu erfüllen, wenn Pflegende aufgrund der hohen Arbeitsauslastung kaum mehr Freizeit und Kraft haben. Beispiele wie der Bochumer Bund belegen dennoch, dass die Pflege dabei ist, sich besser zu vernetzen. Hoffnung machen auch einige Gruppen von Pflegenden, die sich berufspolitisch engagieren.
Ein Beispiel ist die Gruppe MÜNSTER CARES. Diese setzt sich unter anderem für bessere Arbeitsbedingungen, eine bedarfsorientierte Personalabmessung, eine angemessene Entlohnung und eine Gesundheitsreform ein. Im Rahmen meiner Recherche, habe ich das Gespräch mit meine Arbeitskollegin Janina gesucht. Sie ist Gründungsmitglied von MÜNSTER CARE und erzählte mir, dass das mediale Interesse der Gruppe stetig steige. So stehe die Gruppe in engem Austausch mit bereits bekannten Influencer:innen aus der Pflege oder Gewerkschaften wie ver.di. Auch die Partei DIE LINKE Münster sei bereits auf die Gruppe aufmerksam geworden. Die Hoffnung der Gruppe ist, dass es irgendwann nicht mehr heißt MÜNSTER CARES, sondern DEUTSCHLAND CARES. Doch auch Janina und ihre Kolleg:innen haben mit der starken beruflichen Auslastung zu kämpfen.
„Es kommt oft vor, dass wir uns nach dem zehnstündigen Nachtdienst von 8:00 bis 10:00 nochmal zusammensetzen müssen.“
Janina von MÜNSTER CARES
Um Ziele wie die von MÜNSTER CARES zu erreichen, benötigen die Pflegenden mehr gesellschaftlichen Rückhalt, nicht nur während einer Pandemie. Bleibt also sensibel für das Thema und helft den Pflegenden dabei ihre Stimme zu erheben! Ein erster Schritt dafür könnte sein MÜNSTER CARES auf Instagram zu folgen und dadurch mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken.