Die Guten ins Kröpfchen?

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Mein Einkaufskorb schnürt mir den Arm ab, als ich versuche meine Schätze vom Auto in die Wohnung zu tragen. Im Korb stapeln sich Salat, Paprika, Kräuter, Äpfel, Radieschen und Pastinaken. In meinen Händen trage ich mehrere Basilikumpflanzen. Als ich es endlich geschafft habe, alle Türen des großen Mehrfamilienhauses, das ich mein Zuhause nenne, aufzuschließen und hindurch zukommen, lade ich erleichtert alles in der Küche ab. Und verschaffe mir erstmal einen Überblick.

Nicht alles, was mir vor wenigen Minuten überlassen wurde, sieht noch genießbar aus. Einige Salatblätter sind ganz welk und haben braune stellen. Die Basilikumpflanzen lassen traurig ihre Köpfe runterhängen. Und so mache ich mich daran, Gutes von weniger Gutem zu trennen. Die Masse an Essbarem erschlägt mich. Jetzt habe ich einen überquellenden Korb voll mit Obst und Gemüse vor der Verschwendung gerettet, aber wie soll ich das alles aufessen? Zum Glück ist da noch meine Mitbewohnerin, der ich ein paar Mandarinen schenken kann. Mit meinem Freund plane ich die Gerichte der nächsten Tage. Ich schreibe Bekannten, die mit im Haus wohnen, ob sie noch was brauchen. Frage Familie und Freunde. Die Kräuter trockne ich, um sie später zum Würzen zu nutzen. Wie bin ich eigentlich in diese Situation des Überflusses gekommen?
Es war eher Langeweile, die mich dazu gebracht hatte, mal wieder mein Handy aufzuräumen. Ich scrollte durch meine Apps und löschte alles, was ich in den letzten Monaten nicht mehr angeklickt hatte. Da stieß ich auf die App „Too good to go“. Wieso nutzte ich diese eigentlich nicht?
Als ich nochmal drauf gehe werden mir einige Bäckereien, Supermärkte und Fast-Food Ketten als bunte Punkte auf einer interaktiven Karte angezeigt. Graue Punkte bedeuten, dass es hier zur Zeit kein Angebot gibt. Orange und Grün bedeuten „hier gibt’s was zu retten“. Mit „Too good to go“ wird die Rettung von Lebensmitteln einfach gemacht. Mit nur wenigen Klicks kann man sich seine Brötchen, Kekse, Fischbrötchen oder Überraschungstüten bequem online bestellen und dann zu einer bestimmten Zeit im Laden abholen.

Doch wieso braucht es sowas überhaupt? Too good to go möchte sich mit seinen Kooperationspartnern und durch Aufklärungsarbeit gegen Lebensmittelverschwendung einsetzen. In Deutschland wurden 2018 pro Kopf 154 kg Lebensmittel verschwendet. Insgesamt werden so jährlich 12 bis 18 Millionen Tonnen alleine in Deutschland entsorgt. Dieses Phänomen tritt besonders in wohlhabenden Gesellschaften auf. Länder wie die USA oder Australien liegen mit 278kg (USA) und 361kg (Australien) pro Kopf an der Spitze der Verschwendung. Ein Großteil der vermeidbaren Lebensmittelabfälle wird dabei in privaten Haushalten produziert.

Dadurch, dass besonders schönes und transportfähiges Obst und Gemüse ausgesucht wird und nicht alle Brötchen bis zum Ladenschluss verkauft werden können, entstehen bei den Unternehmen ökonomische Folgen. Und auch der Planet zahlt für diese Ressourcenverschwendung. Alleine in Deutschland könnten 2,5 Millionen Hektar Nutzfläche eingespart werden. Das entspricht der Größe Mecklenburg-Vorpommerns. (Diese und  noch mehr Zahlen dazu findet ihr im Statista Dossier über Food Waste.)

Diese Problematik war mir schon länger bewusst. Allerdings verband ich Lebensmittelrettung vor der Installation von Too good to go hauptsächlich mit Containern, also mit dem Entnehmen von Lebensmitteln aus Supermarkt Tonnen. Dem stand ich immer eher skeptisch gegenüber. Schließlich entschied der Bundesgerichthof im August 2020  erst, dass Containern weiterhin eine Straftat ist.
Supermärkte weigern sich oft gegen die Legalisierung des Containerns, weil sie nicht die Verantwortung für schlechte Lebensmittel übernehmen wollen. Das Mindesthaltbarkeitsdatum stellt im Lebensmittelhandel die Herstellergarantie dar. In diesem Zeitraum sollte sich weder Geschmack, Konsistenz, noch Geruch oder Aussehen des Produktes verändern. Für Lebensmittel, die diese Zeit überschritten haben, gilt diese Garantie nicht mehr. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie ungenießbar sind. Würde allerdings ein Supermarkt Produkte rausgeben, die diese Herstellergarantie nicht mehr haben, würden die Supermärkte für verdorbene Produkte haften. Und dieses Risiko wollen die meisten nicht eingehen. Die Supermärkte und Restaurants, die mit Too good to go kooperieren, bieten die Lebensmittel die sonst entsorgt werden würden, kurz vor Ladenschluss für weniger Geld an. So werden ökologische und ökonomische Folgen der Lebensmittelverschwendung reduziert.

Mit diesen Gedanken im Kopf, beschließe ich der App eine zweite Chance zu geben und sie von nun an aktiver zu nutzen. Die Läden, die ich besonders spannend finde, speichere ich unter meinen Favoriten. So sehe ich schneller, wenn was Neues angeboten wird. Ich nehme mir vor diese Woche eine Portion vor der Tonne zu retten. Adrenalin durchströmt meinen ganzen Körper, als sich der graue Punkt meines Favoriten plötzlich orange färbt. Jetzt muss ich schnell sein, besonders gefragte Märkte sind oft innerhalb weniger Sekunden ausverkauft.

Ich – voller Freunde über meine ersten geretteten Lebensmittel

Doch es klappt und um kurz vor Sieben drückt mir an diesem Abend ein gestresster Verkäufer eine Pappkiste voll mit Obst und Gemüse in die Hände. Zuhause freue ich mich sehr über meine Beute. Ich fühle mich wie die größte Schnäppchenjägerin der Welt. Für wenige Euros habe ich meinen Bedarf an frischem Essen für die Woche abgedeckt. Die letzten Stunden waren das Highlight meiner letzten Wochen. Der Alltag zwischen 2. Und 3. Lockdown gestaltet sich dank Online-Uni wenig abwechslungsreich. Ich kann zwischen den Vorlesungen nicht mit meinen Freunden bei einem Becher Kaffee über die Dozent:innen tratschen. Zum Sport muss ich mich zwingen. Laufen ist nichts für mich und schwimmen gehen kann ich nicht mehr. So verbringe ich mit Fitness-Videos noch mehr Zeit vor meinem Laptop. Da ist Lebensmittelrettung eine angenehme Abwechslung, die mich vor die Tür und aufs Fahrrad zwingt. Davon will ich mehr.

Und so probiere ich in den nächsten Tagen immer mehr Anbieter aus. Ich rette Brötchen, Schokonikoläuse, Anti-Pasti Dips und vieles mehr. Die Adrenalin Kicks treiben mich immer weiter an und nehmen nicht ab. Jedes mal präsentiere ich stolz meine Beute. Mein Alltag wird plötzlich von Abholzeiten bestimmt. Bei einer meiner Abholaktionen treffe ich Corinna. Sie erzählt mir, dass sie die App nutzt, weil sie das als Schritt in die richtige Richtung sieht. Ihr gefällt es, dass sie so auf legale Weise Lebensmittel vor der Tonne retten kann. Durch die Vielfalt kann sie immer wieder neue Läden ausprobieren und sich als Studentin günstigeres Fastfood leisten. Sie findet es allerdings schade, dass noch relativ wenige Unternehmen mitmachen. Außerdem ist ihr aufgefallen, dass relativ viel Verpackungsmüll anfällt. Obwohl in der App steht, dass man seine eigenen Behälter mitnehmen soll, werden die Lebensmittel oft schon verpackt ausgegeben. Das fällt mir bei meinen Aktionen auch auf. Außerdem überrasche ich mit meinem Anliegen mehrmals Verkäufer:Innen. Noch ein Hauptgericht sei gar nicht mehr da. Da müsse man noch eben was machen. Das entspricht meiner Retter-Logik nicht so ganz.

Bei meiner nächsten Abholung, dieses Mal rette ich Leinöl, nehme ich also all meinen Mut zusammen und frage die Verkäuferin des Marktstandes der Ölmühle Warendorf, wie das Too good to go-System aus ihrer Sicht abläuft. Freundlich verweist sie mich an ihren Chef, der glücklicherweise gerade vorbeischaut. Detlef heißt er und gut gelaunt kommen wir ins Gespräch. Das Leinöl, das ich mir über die App gekauft habe, weist einen „Makel“ auf, erklärt er mir. Er deutet auf den Boden der Flasche und auch ich sehe, dass sich dort ein dunkler Satz gebildet hat. In diesem Bodensatz befinden sich Schwebstoffe, die bei der Pressung entstehen. Sie sind nicht gesundheitsschädigend und gelten als besonders aromatisch. Früher verschenkte Detlef dieses Öl meist an Familie, Freunde und Bekannte. Too good to go hilft ihm nun dabei, damit auch noch etwas Geld zu verdienen. Von den 3,30 €, die man pro Portion über die App bezahlt, bekommt er 2/3 ausgezahlt. Auch mit dem Presskuchen, der bei der Herstellung anfällt, kann er noch was anfangen. Dieser wird nämlich als Tierfutter verwendet. Aus kaufmännischer Sicht hilft ihm die App auch dabei neue Zielgruppen anzusprechen.

Dieses Gespräch hilft mir sehr dabei, die Interessen der Anbieter zu verstehen. Trotzdem fange ich an, dass System zu hinterfragen. Ich freue mich zwar sehr darüber, dass Detlef sein nicht ganz makelloses Leinöl so zu Geld machen kann. Aber wieso muss es diese App überhaupt geben? Wieso kann Detlef sein dunkles Leinöl nicht einfach so verkaufen? Ich möchte vor allem die großen Ketten nicht dabei unterstützen mehr zu produzieren, als sie an einem Geschäftstag verkaufen können. Ich möchte in den Supermarktregalen krummes Gemüse, wovon kurz vor Ladenschluss nichts mehr da ist. Mein Idealismus setzt ein und ich beginne nach Alternativen zu suchen. Da fällt mir ein, dass ich bei einem Sonntag-morgendlichen Rettungsgang Marie begegnet bin. Marie kenne ich aus meinem Studiengang, außerdem wohnt sie im selben Mehrfamilienhaus wie ich. Als wir uns an den Fahrrädern trafen erzählten wir beide stolz von unserem Rettungsvorhaben. Allerdings nutzte Marie dafür nicht die App.
Marie ist nämlich Foodsharerin. Dadurch, dass sie im Verein „Foodsharing“ vernetzt ist, kommt Marie ganz kostenlos an gerettetes Essen ran.

Ich schreibe sie nochmal an und lasse mir das System „Foodsharing“ erklären. Der 2012 gegründete Verein kooperiert auch mit Supermärkten und Restaurants. Speziell ausgebildete Mitglieder des Vereins holen bei Kooperationspartnern unentgeltlich Lebensmittel ab, die nicht mehr verkauft werden sollen. Diese Foodsaver:innen sind dann dafür verantwortlich die geretteten Lebensmittel weiter zugeben, so dass am Ende nichts weggeworfen werden muss.

Meine erste Foodsharing-Abholung

Das möchte ich ausprobieren und so trete ich einer Telegram-Gruppe bei, in der Lebensmittel verteilt werden. Einige Tage später melde ich mich auf Linos Essenskorb. So heißen die Portionen, die weiter verteilt werden. Und diesen Essenskorb schleppe ich mit aller Kraft in meine Wohnung und bin erschlagen von der Masse. Da war ich wohl eine sehr naive Foodsharerin. Lino erklärt mir in einem Zoom-Gespräch einige Tage später, dass die Meisten auch weniger auf einmal nehmen als ich das getan habe.
Diesen Übermut sehe ich als  Herausforderung an mich selbst. Ich möchte selbst Essen verteilen und alles was nicht zeitig wegkommt, haltbar machen. Es klappt. Eine Woche später ist, bis auf die immer noch etwas traurigen Basilikumpflanzen, nichts mehr übrig. Lino und Marie erzählen mir beide, dass sie durch Foodsharing weniger einkaufen müssen. Besonders frisches Obst, Gemüse und Backwaren finde ich oft in der Telegram-Gruppe. So könnte man Geld für solche Einkäufe sparen und sich dafür dann haltbarere Lebensmittel wie Nudeln oder Reis für mehr Geld beim Biomarkt oder Unverpackt Laden leisten.

Am Ende meines Experiments habe ich eine Menge dazu gelernt. Durch meinen Einstieg über Too good to go, habe ich die Strukturen hinter der Lebensmittelverschwendung besser verstehen können. Auf vielen Webseiten habe ich unzählige Tipps gelernt, wie ich meine persönliche Verschwendung reduzieren kann. Brot lagere ich nicht mehr im Kühlschrank oder in der Plastiktüte, so bleibt es länger frisch. Die Druckstellen an Zwiebeln kann ich vermeiden, in dem ich sie in einer Strumpfhose aufhänge. Außerdem habe ich gelernt, ganz anders einzuschätzen, ob Lebensmittel noch gut sind oder nicht. Das Mindesthaltbarkeitsdatum sehe ich eher als grobe Orientierung. Ich teste Aussehen, Geruch und Geschmack und entscheide dann. Trotzdem gilt das nicht bei allen Lebensmitteln. Wer beispielsweise bei Gurken schimmelige Stellen rausschneidet, geht ein gesundheitliches Risiko ein, da sich der Schimmel in wässrigen Lebensmitteln schnell verteilt. Es ist also wichtig, sich genau mit den Eigenschaften der geretteten Lebensmittel auseinander zu setzen. Da ein Großteil des vermeidbaren Abfalls in privaten Haushalten entsteht, bin ich der Meinung, dass man keine App und auch keinen Verein braucht, um sich dagegen einzusetzen.
Spaß hat es mir trotzdem gemacht.

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