Gerade einmal vier Monate bleiben, dann stehen die Bundestagswahlen an. Dafür bereiten sich nach und nach alle Parteien auf den Wahlkampf vor oder sind bereits mittendrin. In den Nachrichten hört man jede Woche von beschlossenen Wahlprogrammen oder gewählten Spitzenkandidat*innen der großen Parteien. Doch auch abseits von CDU und Grünen, die Parteien, die aktuell am meisten Aufmerksamkeit erhalten, hat der Wahlkampf begonnen. Was viele Wahlberechtigte nicht wissen: In ganz Deutschland starten kleine Partien in den Wahlkampf – mit dem Ziel im September die 5% Hürde zu knacken. Darunter sind auch immer mehr junge Parteien. Jung, weil es sie erst seit wenigen Jahren gibt und jung, weil sie von Menschen unserer Generation gegründet und geführt werden.
Was bewegt junge Menschen dazu eine Partei zu gründen? Was erhofft man sich von einem Wahlkampf gegen Parteigrößen wie eine CDU? Um diese Fragen zu klären, haben wir uns mit zwei Vertretern einer dieser jungen Parteien getroffen.
Es ist ein Montag Abend und wir treffen uns mit Lukas Sieper und Artemij Kiel von der Partei des Fortschritts über Zoom. Nach über einem Jahr Online Universität für uns alle kein Problem mehr. Auch Lukas und Arte studieren und haben die Partei nebenbei gegründet, gemeinsam mit Lukas‘ bestem Freund und seinem Mitbewohner – also buchstäblich im Wohnzimmer. Auf die Frage, warum die beiden diese Hürde neben eines Vollzeitstudiums auf sich genommen haben antwortet Lukas: „Als junge Menschen haben wir uns auch immer wenig von der Art und Weise, wie Parteien kommunizieren und wie politisch geworben wird, angesprochen gefühlt “ Sie seien beide die klassischen Wähler gewesen, die bei ihrer ersten Landtagswahl mit 16 mal jemanden gewählt haben und dann bei der Kommunalwahl und Bundestagswahl wieder etwas anderes, weil sie nie wirklich hinter der Partei standen, der sie ihre Stimme gab. Sie wollen sich engagieren, aber die großen Partien, die es gibt, seien eher „Teil des Problems als Teil der Lösung“. Was bleibt also übrig? Die Gründung einer eigenen Partei.
Das war jedoch alles andere als einfach. An sich darf der Staat nicht regeln, wie eine Partei gegründet wird, denn sonst könnte er dafür sorgen, dass nur Parteien gegründet werden, die ihm zusprechen. Daher ist die Parteigründung an sich frei, es sind lediglich drei Personen gefordert. Bei der Zulassung zu Wahlen sieht es jedoch anders aus. Um sich wählen lassen zu können, muss eine Partei bestimmte Eigenschaften nach wahlgesetzlichen und parteigesetzlichen Bestimmungen erfüllen. Dazu gehören eine Satzung, in der alle Organe (z.B. der Vorstand oder der Parteitag), die Rechte der Mitglieder, Abstimmungsmodalitäten und finanzielle Verhältnisse festgehalten werden. Anschließend muss die Partei ein Programm vorweisen, das nicht verfassungswidrig sein darf. Wenn all das erfüllt ist, schließt man einen Parteigründungsvertrag. Lukas seufzt: „Es ist ein enormer organisatorischer und rechtlicher Aufwand, aber dann steht man in der Unterlagenliste vom Bundeswahlleiter und dann ist es offiziell.“

Mit der Gründung ist es aber noch nicht getan, denn jetzt beginnt erst die eigentliche Arbeit: Die Partei bekannt machen und dafür sorgen, dass man auch gewählt wird. „Auf jeden Fall merkt man schnell den Unterschied zwischen sehr aktiven Leuten, die Lust haben direkt mitzugestalten und Leuten, die aus Gefälligkeit beitreten oder die Idee cool finden, aber keine Lust haben, aktiv Zeit und Kraft zu investieren“, erklärt Arte. Am Anfang sollte viel über den Freundeskreis und Bekannte laufen, danach können junge Parteien am besten Social Media für sich nutzen, um Kampagnen zu organisieren und Events zu veranstalten. Dabei gilt: Je professioneller und je präsenter, desto mehr Leute lassen sich überzeugen.
Klingt nach einer machbaren Aufgabe, doch Lukas bremst die Erwartungen: „Man muss sich klar machen, man ist eine Partei in der Gründungsphase. Das dauert Jahre, Jahrzehnte bis eine Partei irgendwo steht. Und man muss sich wirklich vollständig von der Vorstellung verabschieden, gewählt zu werden.“ Es gebe vor allem zwei Probleme: Es kennt einen niemanden und selbst wenn man bekannt ist, denken viele Leute, sie verschwenden ihre Stimme, wenn sie diese einer kleinen Partei geben. „Diese Mauer der demokratischen Gewohnheit muss man erstmal durchbrechen.“ Das ist der Partei in NRW schon gelungen. Dort erhielt sie bei der Kommunalwahl mit 31 Stimmen.
Wenn eine Partei noch nie bei einer Wahl angetreten ist, benötigt sie Unterstützerunterschriften. Diese sollen ein gewisses Maß an Grundunterstützung in der Bevölkerung garantieren. Nicht unbedingt eine schlechte Idee, doch Lukas schüttelt den Kopf: „Diese Unterstützerunterschriften haben zwei maßgeblich große Probleme, wo man sich als junger Mensch auch regelmäßig an den Kopf fasst. Erstens müssen sie in ausgedruckter Form, handschriftlich unterschrieben werden und dürfen auch nur im Original eingereicht werden. Zweitesns sehen die Formblätter wirklich furchtbar aus. Es wird einem Angst und Bange, wenn man da drauf guckt.“ Er hält einen Zettel in die Kamera. Darauf ist ein großes Dienstsiegel und ein Satz, dass man sich strafbar macht, sollte man mehr als einen dieser Unterstützerzettel unterschreiben. Das schrecke die Leute ab. Dabei verpflichtet man sich mit seiner Unterschrift zu nichts und die Partei ist froh über jede*n einzelne*n Unterstützer*in. Für eine Landesliste braucht man 2000 Unterschriften von in diesem Bundesland gemeldeten und wahlberechtigten Personen. Erst wenn das Wahlrecht vom jeweiligen Amt überprüft und abgestempelt ist, ist die Unterschrift gültig. „Gerade in Coronazeiten ist das ein unfassbar unnötiger, riesiger Verwaltungsaufwand. Völlig unabhängig davon, dass man diese Unterschriften auch noch besorgen muss.“ Lukas und Arte hoffen, dass der Bundestag die Anzahl der benötigten Unterschriften noch heruntersetzt, denn ihnen sitzt die Frist im Nacken – sie endet am 21. Juli.
Eine Parteigründung ist also nicht einfach, aber machbar. Damit man jedoch Stimmen für sich gewinnen kann, muss man aus der Masse herausstechen. Das wissen auch Lukas und Arte und haben sich für ihre Partei etwas Besonderes einfallen lassen: Sie bezeichnen sich als ideologiefrei. Doch geht das überhaupt? Kann eine Partei ideologiefrei sein? Lukas nickt heftig, natürlich ginge das, es käme eben darauf an, wie man Ideologie definiere. Er bezieht sich auf das klassische Links-Rechts-Schema, nicht auf die Demokratie an sich. „Bis auf die Ränder gibt es in allen politischen Lagern gute politische Ideen. Selbst bei populistischen Partien wie der Linken oder der AfD, auch wenn das keiner hören will.“ Er wolle allen zuhören, mit allen reden, ideologische Scheuklappen von Anfang an, seien falsch. „Das Problem im politischen Diskurs ist heute, dass die Leute auf der rechten Seite sich nur mit den linken streite und andersherum. Sie verteufeln sich gegenseitig wo es nur geht und dazwischen dümpelt dann irgendwo die CDU rum und faselt irgendwas von irgendeiner Mitte. Was auch immer das sein soll, aber sie versucht, sich von beiden Seiten da ein bisschen was zu erhaschen.“
Nur weil sie sich nicht ins Rechts-Links-Spektrum einordnen würden, hieße das nicht, dass sie keine Meinung haben. Sie seien eben dafür, dass jedes Thema im Einzelfall entschieden werden müsse. Das mag sich zwar anhören als sei man ein „Wendehals“, aber letztendlich mache jede andere Partei genau das gleiche. Schließlich habe selbst die CDU mit der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in ihrer Regierungszeit Dinge entschieden, die vollständig gegen ihre eigene ideologische Linie gehe. „Wir möchten nicht, dass politische Probleme nur deshalb nicht angefasst werden, weil es nicht mit den eigenen Präferenzen übereinstimmt.“
Auf andere Parteien verweist Lukas auch, als wir nach dem Parteiprogramm fragen. Die Basisdemokratie ist neben der „Ideologiefreiheit“ das zweite Alleinstellungsmerkmal, dass sich die Partei auf die Fahne schreibt. Mittels Arbeitskreisen wollen sie bürgernahe Konzepte entwickeln, die danach im Parteiparlament ratifiziert werden. Die Arbeitskreise setzen sich aus Leuten zusammen, die vom jeweiligen Thema betroffen sind und sich einbringen wollen. Dabei seien sie nicht nur für Mitglieder. Jeder könne mitmachen, die einzige Voraussetzung sei, man müsse selbst betroffen sein. „Ein großes Problem an der ganzen Parteienlandschaft wie wir sie haben ist ja auch, dass rein numerisch betrachtet nur unglaublich wenig Leute darüber entscheiden, was im Parteiprogramm steht.“ Das will die Partei von Lukas und Arte ändern und auch ihre Parlamente zur einem Drittel mit Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft besetzen.
Aber was sagt mir ein Parteiprogramm noch, wenn sich die Partei selbst als basisdemokratisch beschreibt, also alle Punkte des Programms jederzeit mit einer Abstimmung über den Haufen geworfen werden können? „Diese Gewissheit hat man nirgendwo“, erklärt Lukas und Arte macht mit einem Vergleich klar, warum ihm Veränderung wichtig sei: „Man könnte auch ein Schriftstück von einer anderen großen Institution nehmen, dass über Jahrtausende hinweg nicht verändert werden durfte. Dann hat man sowas wie die Bibel, wo einfach nichts Zeitgenössisches mehr entsteht. Deswegen muss eine Partei sich auch im Grundsatzprogramm verändern und anpassen können.“ Durch die Basisdemokratie gelänge dies schneller, effizienter und bürgernäher. Außerdem könne so die Meinung einer Gruppe besser dargestellt werden, fügt Arte hinzu, denn es habe jeder denselben Zugriff. Bezüglich des Minderheitenschutzes sieht er ebenfalls kein Problem, da die Partei bereits jetzt mutlikulturell aufgestellt sei. Ein Rechtsruck, wie es bei der AfD also ursprünglich euroskeptische Partei geschah, würde bei ihnen nicht passieren können.
Macht diese Zugänglichkeit nicht angreifbar für Manipulationen? Nein, erklärt Lukas, die Arbeitskreise seien nicht das Gremium, welches das Parteiprogramm am Ende beschließt. Nur wenn das Parlament zustimmt, entstehe ein Programmpunkt. „Wir werden oft gefragt, wie wir verhindern, dass unter Umständen Kräfte einsickern, die das in eine falsche Richtung lenken.“ Diese Aufgabe soll das Parteiparlament übernehmen. Ob das letztendlich ausreicht, bleibt abzuwarten. Lukas ist überzeugt davon, dass sich die Partei nicht in eine Richtung verschieben wird, man werde mal rechte und mal linke Positionen vertreten, ohne die gesamte Linie der Partei zu verändern. Es sei aber dennoch aufgefallen, dass neue Mitglieder meist aus dem gleichen Milieu kommen. Etwa 80% seien jünger als 30, viele seien Studenten und eher links eingestellt. Wenn man aber darauf achte, dass auch andere Meinungen gehört werden, sei dies kein Problem. „Wenn dann am Ende unseres Parteiprozesses ein Programm herauskommt, das in weiten Teilen links ist, dann ist das noch kein linkes Programm, sondern ein basisdemokratisches. Alle haben sich gemeinsam auf dieses Programm geeinigt. Das müssen dann alle Mitglieder mittragen.“
Ein Programm hat die Partei schon. In vielen Punkten stimmt es mit der politischen Mitte überein, es wird über Klimaschutz und Integration gesprochen und es wird niemandem auf die Füße getreten. Doch gegen Ende stolpert man über den Begriff „Jedermannsarbeit“, eine Arbeitsverpflichtung für Sozialhilfeempfänger*innen. Kritische Stimmen bezeichnen das als moderne Sklaverei. Lukas verweist darauf, dass es der Partei insbesondere darum ginge, den Menschen, die auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten und bis dahin gelangweilt in einer Unterkunft säßen, die Möglichkeit zu bieten, sich sinnvoll zu beschäftigen. Für die soziale Einbindung und auch die Psyche sei es förderlich, etwas Produktives tun zu können.
Es ist eine ausweichende Antwort und manchmal sind auch kleine Worte wichtig: Können oder müssen? Das sei eine verfassungsrechtliche Frage, erklärt Lukas. „Laut dem Grundgesetz ist Zwangsarbeit nur nach gerichtlichem Beschluss möglich. Gegen die Verfassung stellen wir uns natürlich nicht. Konkret ist dieser Punkt auch noch kein direktes Vorhaben, sondern eine Idee, die wir uns auf die Fahne schreiben. Wir werden das Ganze jetzt im Hinblick auf das Grundgesetz und die Menschenrechte prüfen und dann schauen, wie man es umsetzen kann.“ Der Sinn eines Grundsatzprogrammes sei es, Denkanstöße zu geben und den Menschen, auf deren Unterschriften man hoffe, ein Identifikationspotenzial zu geben. Damit hat Lukas zwar recht, dennoch ist es schwierig, Punkte in dieses Programm aufzunehmen, von denen man nicht mal die Verfassungsmäßigkeit kennt.
Zum Abschluss fragen wir Lukas und Arte, wie sie jetzt in den nächsten Monaten bis zur Wahl weiter vorgehen werden. Aktuell laufe ein Praktikumsprogramm, was in Zukunft ausgeweitet werden soll und sowohl Studierende der Wirtschaftswissenschaften als auch Medieninteressierte ansprechen soll. Zuerst liege der Fokus aber auf der Akquise neuer Mitglieder und dem Sammeln von Unterschriften für die Wahl. Lukas selbst ist sehr überzeugt, dass er genügend Unterstützer*innen gewinnen kann: „Wer die Frage, ob man jemals eine Partei gewählt hat, zu der man 100%ig stand, mit Nein beantwortet, der sollte sich unsere Partei genauer anschauen. Wer den persönlichen Kontakt zu mir sucht: Meine Telefonnummer ist 015734433823. Ich bin persönlich bereit, mit jedem Interessierten über unsere Partei zu reden.“ Kurzes Lachen unsererseits, doch Lukas meint es ernst. Vielleicht ist genau das der Vorteil einer jungen Partei: Die Chance für persönlichen Kontakt und über einen kurzen Draht wichtige Entscheidungen treffen zu können.
Die Partei des Fortschritts findet ihr unter www.partei-des-fortschritts.de und auf Instagram (@pdf.bund)
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