Seit mehr als anderthalb Jahren beschäftigt uns die Covid-19 Pandemie nun schon. Daher ist es kein Wunder, dass die Fragen nach einem Ende der Pandemie immer lauter werden. Wann können wir wieder unbeschwert feiern gehen, unsere liebsten umarmen, reisen ohne Sorge vor kurzfristigen Stornierungen? Wann ist das Corona-Virus endlich weg? Zumindest die Antwort auf die letzte Frage ist so einfach wie unangenehm: Wahrscheinlich nie. Das Corona-Virus ist gekommen, um zu bleiben. Es hat sich zu weit verbreitet und ist zu anpassungsfähig, als dass der Mensch es wieder vollständig einfangen könnte. Was aber nicht heißt, dass wir den Erreger nicht unter Kontrolle bekommen könnten.
Die Frage ist, wie wir in Zukunft mit dem Virus umgehen wollen. Soll es ab jetzt für die nächsten Jahrzehnte einen Lockdown-Winter und einen Öffnungs-Sommer geben? Das möchte niemand. Doch auch in Deutschland steigen die Infektionszahlen bereits wieder, und dabei ist der Herbst noch nicht einmal erreicht.
Aber hilft der starre Blick auf die Inzidenzwerte bei der Corona-Bekämpfung noch?
Letztes Jahr sah die Situation folgendermaßen aus: Wir hatten nicht mehr als Aussichten auf einen Impfstoff, eine schlechte Studienlage zur Epidemiologie und im ganzen Land herrschte ein Emotionscocktail aus Verunsicherung, Wut und Angst. Daraufhin wurden Öffnungs- und Lockerungsschritte an Inzidenzen gekoppelt, die bekannten Zahlen 35, 50 und 100. Die Politik leistete in dieser Zeit keine Glanzleistung, verschob die Zahlen immer wieder willkürlich (beispielsweise wurde der Inzidenzwert, ab dem Schulen geschlossen werden sollten im April auf 165 festgelegt – nicht, weil das ein wissenschaftlich gerechtfertigter Wert wäre, sondern einfach weil es die Mitte aller Vorschläge aus den Ländern war) und verlor so das Vertrauen der Bevölkerung, die Pandemie erfolgreich bekämpfen zu können. Trotzdem war der Inzidenzwert, neben dem Reproduktionswert R, die einzige Zahl, die ein für alle verständliches Bild vom Infektionsgeschehen darstellte.
Heute sieht die Lage ganz anders aus: Wir haben einen Impfstoff. Wenn alles gut läuft, kann Deutschland die Herdenimmunität im Spätherbst erreichen. Es wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die die Ausbreitung und Symptome des Virus erfassten und zu wichtigen Erkenntnissen beigetragen haben. Ein Beispiel dafür ist die Gutenberg COVID-19 Studie der Universität Mainz, deren Ergebnisse vor zwei Wochen vorgestellt wurden. Sie ist mit ihren neun Monaten Laufzeit eine der größten und umfassendsten Studien ihrer Art in Deutschland.
Dunkelziffer der Infizierten deutlich höher als bisher angenommen
Und die Geduld zahlte sich aus. Es konnte gezeigt werden, dass mehr als 40% aller mit dem Virus infizierten Personen nicht von ihrer Infektion wissen. Damit ist die Dunkelziffer der bereits Infizierten deutlich höher als zunächst angenommen. Demnach wären ca. 6,3% der Bevölkerung infiziert gewesen, das RKI sprach Anfang Juni noch von 4,6%. Außerdem konnte die Studie belegen, dass die einfachsten Mittel im Kampf gegen die Pandemie wie die AHA-Regeln, die erfolgreichsten waren. Menschen, die häufiger eine Maske trugen und sich an Abstandsregeln hielten, infizierten sich im Rahmen der Studie auffällig seltener.
Die Forscher*innen aus Mainz konnten weiterhin keine Anzeichen dafür finden, dass Kinder im Haushalt das Risiko einer Infektion mit dem Virus erhöhen. Hierbei muss jedoch die Gesamtanzahl der Personen eines Haushalts betrachtet werden: Der Anteil der Infektionen bei Haushalten, in denen vier oder mehr Personen zusammenleben, liegt verglichen mit Zwei-Personen Haushalten um ca. 30% höher. Auch wurde ein Blick aus sozioökonomische Faktoren geworfen: So ist das durchschnittliche Nettoeinkommen bei etwa 16% gesunken, insbesondere in einkommensschwächeren Haushalten. In der armutsgefährdeten Gruppe ist das Einkommen bei mehr als jeder vierten Person gesunken. In einkommensstarken Gruppen verzeichnete nur jede 6. Person einen Verlust – genau so viele berichteten auch von Einkommenssteigerungen. Alle Ergebnisse der Studie findet ihr auf dem GCS Dashboard.
Die Studie zeigt aber auch, dass besonders zwei Dinge wichtig sind: Impfen und Testen. Nur so, können wir uns ein Bild vom aktuellen Infektionsgeschehen machen. Auch führende Mediziner*innen machen sich nun für Alternativen zum Inzidenzwert stark. Sie schlagen vor allem „intensive Maßnahmen der Infektionsprävention“ für Alte und Kranke vor, um Maßnahmen für geringer gefährdete Gruppen wie Kinder, Schüler:innen und Student:innen zu reduzieren. In einem Bericht schreiben die Ärzt:innen: „Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab“. Sie seien vor allem von Testkapazität und Testwillen der Menschen abhängig. Außerdem mache es einen großen Unterschied ob bei einer Inzidenz von 50 alle Infizierten Kinder und Geimpfte seien oder ob vor allem die Risikogruppen betroffen seien.
Doch welche Alternativen zum Inzidenzwert gibt es überhaupt?
- Der Reproduktionswert R: Diese Zahl gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person ansteckt. Steigt der Wert über 1, besteht die Gefahr eines exponentiellen Wachstums, das schnell außer Kontrolle geraten kann.
- Die Hospitalisierung: Nicht nur die Anzahl der Erkrankten ist wichtig, sondern auch der Schweregrad der Erkrankung. Bisher war es so, dass mit dem Anstieg der Infektionen ein gewisser Prozentsatz im Krankenhaus landete. Das ist aber nicht mehr zwingend so, da eine Impfung einen schweren Verlauf verhindert. Um die Hospitalisierungsrate jedoch zuverlässig zu erheben, müssten Krankenhäuser mehr Daten erheben und weitervermitteln. Dazu fehlt derzeit noch die Infrastruktur.
- Die Intensivbettenbelegung: Eine weiter mögliche Kennzahl wäre der Anteil der belegten Intensivbetten. Auch für diese Zahl werden jedoch deutlich mehr Daten benötigt, um eine genaue Lage der Infektion und eine Auswertung der Erfolge durch Impfungen zu ermöglichen.
- Die Todesfälle: Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung zeichnete das umstrittene Kriterium noch im Febraur 2021 als „Unstatistik“ des Monats aus. Diese Zahl eignet sich wohl eher nicht, da schon die Frage, ob Menschen an oder mit Corona gestorben sind, in den meisten Fällen gar nicht eindeutig beantwortet werden kann.
- Die Impfquote: Wahrscheinlich eines der wichtigsten Kriterien in der nächsten Zeit wird der Anteil der Geimpften sein. Je mehr Menschen geimpft sind, desto mehr Lockerungen können auch bei hohen Inzidenzen erlaubt werden, da schwere Krankheitsverläufe unwahrscheinlich werden.
Am Ende wird eines klar: In Zukunft wird es vermutlich auf eine Kombination verschiedener Kennzahlen hinauslaufen. Eine Alternative zum Inzidenzwert gibt es nicht, immer nur Ergänzungen. Das sagt auch Hajo Zeeb, Epidemiologe und Professor an der Universität Bremen:
Es macht Sinn, Inzidenzwerte mit der Frage der Belastung der Krankenhäuser, zum Beispiel der Intensivbetten, zu verbinden und sich die zeitlichen Verläufe anzuschauen. Diese sind aber Ergänzungen, und keine Alternativen. Denn wir brauchen schon ein Maß, das uns sagt, was in der Bevölkerung passiert in Bezug auf die Infektionen.
Hajo Zeeb, Epidemiologe und Professor an der Universität Bremen
Mit steigender Impfquote können mehr Lockerungen getroffen werden, auch wenn die Inzidenzwerte hoch bleiben. Ein Inzidenzwert von 50 in diesem Jahr rechtfertigt nicht mehr die gleichen Maßnahmen wie im Jahr zuvor. Wichtig ist jedoch, dass klare Regeln auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen werden, die dann auch eingehalten und nicht zum Spielball des Wahlkampfs werden. Wer eine Notbremse ab einer Inzidenz von 100 vereinbart, der muss dies auch durchführen. Alles andere würde die Glaubwürdigkeit der Politik zunichte machen.
Nach Berechnungen der Universität Minnesota wird uns diese Pandieme noch anderthalb bis zwei Jahre beschäftigen. Was geschieh danach? Das bleibt weiter schwierig abzuschätzen. Es gibt vier weitere Coronaviren, die Menschen befallen können, dazu gehört auch das Grippe-Virus, gegen das jedes Jahr viele Menschen geimpft werden, da auch dieser Erreger sich stetig verändert. Wahrscheinlich reiht sich Covid-19 irgendwann zwischen diesen Viren ein. Mit Sicherheit kann niemand sagen, wie die Welt in 5 Jahren aussieht, vor allem unter dem Gesichtspunkt der ungleich verteilten Impfstoffe auf der ganzen Welt. Nur eins ist klar: Es wird in jedem Fall auf eine Koexistenz zwischen Mensch und Virus hinauslaufen.