Wer nimmt muss auch geben – Warum es ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr geben sollte

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Disclaimer: Folgende Argumentation bezieht sich stark auf die Aussagen des Philosophen Richard David Precht in seinem Buch „Von der Pflicht: Eine Betrachtung“.

Schon seit 10 Jahren ist die Wehr- bzw. Zivildienstpflicht nun abgeschafft. Ich persönlich habe mich gefreut, nach dem Abitur das machen zu können, worauf ich Lust habe. Egal, ob ich direkt eine Ausbildung anfange, studiere, eine Freiwilligenarbeit leiste oder ins Ausland gehe: Die Welt stand mit offen. Zumindest hatte ich das Gefühl. Ein Jahr lang nahm ich mir die Zeit, um nach Südamerika zu gehen, Spanisch zu lernen und einen Freiwilligendienst zu absolvieren. Zurück in Deutschland absolvierte ich Praktika, ging arbeiten und engagierte mich ehrenamtlich. Obwohl diese Zeit nun schon vier Jahre zurückliegt, erzähle ich immer noch sehr häufig von meinen Erfahrungen, die ich in diesem Jahr gesammelt habe. Es hat mich stark geprägt und meinen weiteren Lebensweg viel mehr beeinflusst, als ich vorher gedacht hätte. Ich kann also aus meiner persönlichen Sicht nur empfehlen, nach der Schule nicht sofort den beruflichen Weg fortzusetzen. Als ich letztens das Buch „Von der Pflicht: Eine Betrachtung“ des Philosophen Richard David Precht gelesen habe, bin ich auf einen Vorschlag von ihm gestoßen, der mir persönlich sehr gut gefällt. Er plädiert dafür, ein sogenanntes Gesellschaftsjahr zweimal im Leben verpflichtend einzuführen: Einmal nach der Schule und einmal vor Beginn der Rente. Egal ob man der Pflege im Krankenhaus unter die Arme greift oder sich für die Umwelt engagiert: Hauptsache jede:r Bürger:in Deutschlands tut etwas für die Gemeinschaft.

Ein ganzes Jahr lang abgehende Schüler:innen und angehende Renter:innen zum sozialen Arbeiten verpflichten? Geht das nicht etwas zu weit? Widerspricht der Ansatz nicht dem Recht auf Selbstbestimmung? Nein, sagt Precht. Jede:r Staatsbürger:in Deutschlands hat auch Pflichten gegenüber dem Land. Wir erwarten viel von unserem Staat: ein funktionierendes soziales und wirtschaftliches System, welches uns Grundrechte zusichert und Sicherheit bietet, kostenlose Bildung bereitstellt und im Notfall (finanziell) unterstützt, um nur einige Beispiele zu nennen. Dafür zahlen wir Steuern und erbringen Leistungen durch unsere Arbeit. Und wir erwarten auch, dass unsere Gesellschaft bestimmte Werte wie zum Beispiel Toleranz vertritt, dass jede:r die gleichen Chancen hat, und dass keine:n Büger:in zurückgelassen wird. Und was tun wir für unseren, wie Precht sagen würde, „Vorsorge- und Fürsorgestaat“?

Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich. Aber viele engagieren sich auch nicht. Und das, obwohl sie es eigentlich gerne würden und/oder es ihnen gefallen würde. Erstens, weil der Mensch per se zur Faulheit neigt. Warum sollte man auch mehr tun, als man eigentlich muss? Zweitens, weil man vielleicht auch gar nicht weiß, wie man sich engagieren kann. Besonders die ältere Generation, welche vielleicht nicht mal eben schnell googeln kann und auch auf den sozialen Medien nicht so stark vernetzt ist, hat es eindeutig schwerer, etwas Passendes an ehrenamtlichem Engagement zu finden. Wenn dies aber nach dem Arbeitsleben eine allgemeine Pflicht wäre, würde es mehr Informationen geben und der Übergang in dieses Gesellschaftsjahr könnte zum Beispiel auch von den dann bald ehemaligen Arbeitgebern unterstützt werden. Aus genau diesen Gründe glaube ich auch, dass ein Gesellschaftsjahr für beide Alterskohorten zu einer Pflicht werden müsste und nicht freiwillig sein sollte. Erst als die Gurtpflicht eingeführt wurde, ging die Anzahl der tödlichen Unfälle auf deutschen Straßen merklich zurück, obwohl man sich auch schon vorher hätte freiwillig anschnallen können. Auch das Rauchen in den Kneipen musste verboten werden, um Nichtrauchende zu schützen. Manchmal kann es sinnvoll sein, dass der Staat zum Wohle aller Regeln und Pflichten vorgibt, die auf den ersten Blick persönliche Einschränkungen mit sich bringen.

Bei der Einführung eines Gesellschaftsjahres geht es weder darum, jungen und alten Menschen eine 40-Stunden-Woche aufzudrücken noch billige Arbeitskräfte zu schaffen oder den Personalmangel in der Pflege komplett auszugleichen. Allein 15 Stunden soziales Engagement pro Woche wären ausreichend, so Precht. Meiner Meinung nach muss es auch kein ganzes Jahr sein, sondern vielleicht nur 3 bis 6 Monate, die nach Belieben verlängert werden können. Je flexibler ein solches Gesellschaftsjahr gestaltet wird, desto ansprechender ist es für die breite Masse. Es muss nicht in der Pflege oder der Behindertenschule ausgeholfen werden. Warum sich nicht im Sportverein engagieren, Nachmittage für Kinder aus sozialschwachen Familien gestalten, im Kindergarten vorlesen, einen Computerkurs für Senioren geben oder im Ausland Schildkröten retten? Und natürlich würden Personen, die solch ein Jahr nicht leisten können (z.B. aufgrund ihres Gesundheitszustands) nicht dazu gezwungen werden. Welche Vorteile ich in einem solchen Jahr sehe? Ganz allgemein erfahren die Menschen dadurch Selbstwirksamkeit und Anerkennung, die viele in der Schulzeit oder im Job vielleicht nicht erhalten haben. Ich kann etwas bewirken, es macht mir Spaß und ich bin gut darin. Das zu spüren tut gut, vor allem im Hinblick auf die psychische Gesundheit. Zudem kommt man durch ein soziales Engagement auch in Kontakt mit anderen Menschen.

Die junge Generation kann von bereits gemachten Erfahrungen profitieren und bekommt Einblicke in Lebenswelten, mit der sie bis dato vielleicht kaum zu tun hatte. Und auch, wenn jemand sich 100% sicher ist zum Beispiel ein BWL-Studium angehen zu wollen, kann auch der- oder diejenige von einem Gesellschaftsjahr profitieren. Vielleicht lernt er oder sie Personen kennen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind, kann sozusagen „networken“, geht Freundschaften ein oder merkt einfach, dass er oder sie das Engagement während des Studiums fortsetzen möchte. Für die ältere Generation (also die angehenden Renter:innen) sehe ich einen weiteren großen Vorteil in der Absolvierung eines Gesellschaftsjahres. Viele Senior:innen fühlen sich einsam. Sie haben vielleicht keine:n Partner:in, keine Kinder oder Enkel oder diese wohnen nicht in der Nähe. Der Übergang von dem Arbeits- in Rentenleben fällt vielen schwer, schließlich nimmt der Beruf einen Großteil der Zeit ein, gibt eine Tagesstruktur vor und fungiert als sinnnstiftendes Element. Heutzutage sind die meisten Menschen im Alter von Mitte 60 noch relativ fit. Sie haben noch einen großen Teil ihres Lebens vor sich. Warum sollen sie also ihre Erfahrungen nicht weitergeben und dabei auch andere Senior:innen, die in der gleichen Situation sind, kennenlernen?

Das ein Gesellschaftsjahr aber nicht nur Vorteile für die ausführenden Bürger:innen, sondern auch für die Gesellschaft hat, sagt der Name bereits aus. Nicht nur, indem viele Vereine, Organisationen, Städte etc. durch die Arbeit der Ehrenamtlichen unterstützt würden, sondern auch indem das soziale Miteinander und der Gemeinsinn in der Gesellschaft gestärkt werden. Gerade jetzt in der Corona-Pandemie merken wir, wie sehr wir von dem Verhalten anderer Menschen abhängig sind. Mit Egoismus und Rücksichtslosigkeit kommen wir nicht weiter. Wir brauchen eine Gesellschaft, die grundlegende Werte teilt, von Generation zu Generation weitergibt und in der nicht nur jede:r an sich denkt!

Möchtet ihr mehr von der Meinung des Philosophen Richard David Precht erfahren? Dann schaut euch doch mal folgendes Video des SRF an: Richard David Precht: Ohne Pflicht kein Recht! | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur

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