Von Lisa
Derzeit absolviere ich ein Praktikum in einer Kinder- und Jugendrehabilitationsklinik. In der Ernährungsschulungs-Stunde mit adipösen Kindern wird gesagt, dass sie beispielsweise mit dem Konsum eines Päckchens Apfelsaftschorle, ihren „Süßigkeitenbaustein“ auf der täglich zur Ernährungsumstellung herangezogenen Lebensmittelpyramide der DGE streichen müssen. Eigentlich könnte man annehmen, ein 0,2l Apfelsaftpäckchen mit 100% Saft, also 100% „Natur“, sei gesund. Wie sich dann aber bei genauerer Betrachtung der Nährwertangaben herausstellt, enthält dieses kleine Päckchen ca. 20g (Frucht-) Zucker, also ungefähr 7 Zuckerwürfel. Dies würde bei einem Gesamtenergiebedarf von 2 000 kcal/Tag und einer Zufuhr von 50 g freien Zuckern/Tag schon 40% der maximalen Zufuhrempfehlung entsprechen. Und das nur von einem nicht wirklich sättigenden Fruchtsaft! Aber es ist doch so verlockend, dass an der Lebensmittelausgabe immer ein Berg an Apfelschorle-Päckchen stehen und zu jeder Mahlzeit die Möglichkeit bestünde, nachzugeben, ja-zu sagen, zu konsumieren, seinen Durst zu stillen… und dann auch noch der Schokopudding mit Sahnehäubchen zum Nachtisch… bei diesem Angebot, welches heutzutage in vielen Lebensräumen vorhanden ist, werden Kinder (und nicht selten auch die Erwachsenen) oftmals schwach!
Es ist nichts Geheimes – Verschiedenste Hersteller aus der Lebensmittelindustrie machen zielgerichtet Kindern Lust auf Ungesundes. Oder anders ausgedrückt, sie manipulieren das Kauf- und Essverhalten von Kindern und Familien. Sie werben auf verschiedensten Wegen und nutzen Kindermarketing-Strategien für eine Bandbreite an „Kinderlebensmitteln“: Wurst mit Gesichtern, bunte Puddingverpackungen, Softdrinks und Quetschprodukte mit süßen Fantasiewesen, frischem Obst, oder mit Slogans wie „30% weniger Zucker“, „mit wertvollem Calcium“ oder … auf der Verpackung. Laut einer Studie der Universität Hamburg bewerben 92% der Werbespots, die Kinder sehen, ungesunde Produkte. 2011 wurden mit rund 700 Millionen Euro für Schokolade und Süßwaren, ca. 700 mal so viel Geld ausgegeben, wie für Früchte und Gemüse mit ca. 7 Millionen Euro. Der nicht weiter allgemein definierte Begriff „Kinderlebensmittel“ und die Werbe- und Marketingstrategien dafür, vermitteln nicht selten fälschlicherweise den Eindruck, dass solche Produkte gut für Kinder und deren Nährstoffbedarfsdeckung seien. Versteckte oder untergejubelte Zucker, falsche Botschaften, trügerische Verknüpfungen zur „Natürlichkeit“ von Produkten oder von Inhaltsstoffen und Ablenkungsmanöver sind Fallen, welche den Kindern und Eltern, nicht selten, serviert werden. So ist bei vielen der beworbenen „Kinderlebensmitteln“ weniger der gesundheitliche Wert des Inhalts, sondern viel mehr die entsprechende Vermarktung und Produktgestaltung auf die Zielgruppe Kinder ausgerichtet.
Der Nährstoffgehalt von Lebensmittel für Kinder – meist hochverarbeitete Fertigprodukte – überschreitet oftmals jegliche Ernährungsempfehlungen für Kinder. Einer foodwatch Marktstudie (2019) zufolge, enthalten rund 90 Prozent der Frühstücksflocken mehr Zucker als die WHO für Kinderlebensmittel empfiehlt. Kinder nehmen ca. 50-70% mehr Zucker zu sich, als beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt. Ergebnisse der zweiten Welle einer Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS Welle 2, 2014-2017) zeigen, dass 15% der Mädchen und Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren von Übergewicht betroffen sind, die Adipositasprävalenz liegt bei 6%. Neben der Tatsache, dass durch Erkrankungen persönliche Entwicklungschancen teilweise stark eingeschränkt sind, belasten die entstehenden hohen ökonomischen Kosten unsere Gesellschaft. So belaufen sich die Kosten für die Behandlung der Karies auf jährlich über acht Milliarden Euro und für die Folgekosten der Adipositas auf jährlich über 63 Milliarden Euro.
Sind viele unsere Kinder also Opfer einer Lebensmittelindustrie, die Fehlernährung und damit auch Gesundheitsschäden unterstützt? Und verhindert die Lebensindustrie mit ihren perfiden Marketingstrategien jegliche Bemühungen von Eltern und Fachkräften, den Kindern eine gesunde Ernährung zu vermitteln und diese dafür zu begeistern? Im Zuge dieser Überlegungen sollte auch die Frage aufgegriffen werden, wie Kinder ihr Essverhalten und Essgewohnheiten entwickeln. Und inwiefern manipulierbar und reflektiert, bzw. selbstregulierbar diese sind. Damit beschäftigen sich auch die Entwicklungs- und Ernährungspsychologie.
Kultur, Genetische Präferenzen (zum Beispiel eine angeborene Vorliebe für „süß“), Evolutionsbiologische Programme, Innen- und Außenreize sowie Lernprozesse und Erziehung bestimmen, laut dem Göttinger Ernährungspsychologen Thomas Ellrott, das Essverhalten von Kindern. Minderjährige stellen somit eine vulnerable und schützenswerte Konsumentengruppe dar. Ihre Entscheidungen und Verhaltensweisen basieren weniger wie bei Erwachsenen auf Rationalität und kognitiven Urteilen. Kurzfristige Belohnungen werden außerdem oftmals rationaleren Entscheidungen, welche die Zukunft und damit oftmals auch die Gesundheit betreffen, vorgezogen.
Hersteller prägen die Geschmackspräferenzen in frühem Alter und steuern damit Ernährungsgewohnheiten von Familien. Da viele Hersteller wahrnehmen, dass ihre Strategien und Produkte von vielen Teilen der Gesellschaft immer kritischer beurteilt werden, versuchen sie durch soziales Engagement, beispielsweise für Sportveranstaltungen oder Informationskampagnen, sich als „verantwortungsvolle Akteure“, für gesundheitsförderlichere Lebensbedingungen für Kindern einzusetzen. Natürlich kann einer Lebensmittelindustrie nicht vorgeworfen werden, dass sie Geld verdienen wollen. Ihr kann aber vorgeworfen werden, dass sie Produkte vermarktet, welche anerkannten Empfehlungen einer gesunden, ausgewogenen Ernährung von Kindern nicht erfüllen und dies mit Strategien, welchen Kindern und Familien sich kaum entziehen können!
An Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung ist in Deutschland durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag zwischen den Bundesländern geregelt, ergänzt durch freiwillige Verhaltensregeln des Werberats. Zusätzlich gibt es Selbstverpflichtungen von Herstellern. Kellogg’s und andere Hersteller haben den EU-Pledge – eine freiwillige Selbstregulierungsinitiative führender Nahrungsmittel- und Getränkehersteller – unterzeichnet, der unter anderen Aspekten besagt, dass sich Werbung nicht an Kinder unter 14 Jahren richten soll. Produktgestaltungen sind von den jetzigen Regelungen ausgenommen. Doch ist es nicht gerade auch die Gestaltung, welche Kinder an die Regale lockt?
Bundesernährungsministerin Julia Klöckner und Lebensmittelhersteller hatten sich kürzlich unter anderem darauf verständigt, den Zuckergehalt in Kinder-Frühstücksflocken freiwillig bis 2025 um ca. 20% zu verringern. Laut einer Marktstudie von foodwatch wäre selbst dann der Zuckergehalt immer noch bei 87% der Frühstücksflocken aus der Marktstudie zu hoch. Außerdem hat Klöckner den Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) dazu aufgefordert, Verhaltensregeln bei an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung auf allen Kanälen, zu verschärfen wie beispielsweise die Ausweitung des Schutzkreises der Verhaltensregeln von vormals „unter 12-Jährige“, auf „unter 14-Jährige“. Inwiefern eine Umsetzung der Verhaltensregeln stattfinden und von den Ländern kontrolliert wird, gilt es zu beobachten.
Foodwatch zufolge ist eine Politik erforderlich, welche der Industrie klare Regeln und Verbote vorgibt, anstatt nur auf Selbstverpflichtungen der Industrie zu setzen, und damit ein besserer Konkurrenzkampf um ein gesünderes Produktangebot für Kinder einsetzen kann. Auch medizinische Fachgesellschaften und die WHO stellen Forderungen für ein an Kinder gerichtetes Marketing, welches nur für gesunde Lebensmittel werben darf. Was letztendlich „gesund“ ist, ist allerdings eine Definitionsfrage und sollte differenziert betrachtet und diskutiert werden.

Wir können unseren Kindern einerseits, die Vorteile einer gesunden, ausgewogenen Ernährung vermitteln, vor Gefahren warnen, sie beraten, versuchen ihr Verhalten positiv zu beeinflussen und ihnen Alternativen anbieten. Und uns selbst vorbildlich verhalten. Angesichts der Tatsachen, dass Kinder unter anderem über ein nicht so ausgeprägtes Problembewusstsein und eine geringere Risikowahrnehmung verfügen, gilt es vor allem auch, die Verhältnisse in denen Kinder aufwachsen und die Bedingungen für einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu verbessern. Einsetzen von Marketingstrategien für gesunde Lebensmitte sind nur ein paar Beispiele dafür, wie vor allem auch auf gesellschaftlicher Ebene die Voraussetzungen für eine gesundheitsförderlichere Ernährung für Kinder verbessert werden können.