Nicht ohne Grund ermöglicht das Vorzeigeprojekt der Europäischen Union jährlich knapp einer Million Freiwilliger, Praktikant:innen und Student:innen europaweit Studienaufenthalte im Ausland. Das spricht für sich und auch ich darf dieses Semester mit einem ERASMUS+ Stipendium in Spanien verbringen. An der Universidad de Almería, dessen Campus nur eine schmale Promenade vom Mittelmeer trennt, darf ich als eine von über 400 internationalen Student:innen sechs Monate studieren und Land und Leute kennen lernen. Für mich stand Spanien als Ziel schnell fest zwecks Spracherwerb und mit seiner Lage hat Almería bei mir und meiner Liebe zum Wassersport ins Schwarze getroffen. Neben den offensichtlichen Anreizen des Austauschprogramms kommen hier also auch einige subjektive Gründe, weshalb ich den Hochschulaustausch jedem ans Herz legen würde.
Offensichtliches zuerst
Bezahlt werden, um zu studieren? Das klingt erstmal attraktiv. Und auch wenn es nicht ganz so einfach ist, bieten ERASMUS Stipendien finanzielle Unterstützung und erleichtern einen Studienaufenthalt im Ausland erheblich. Gestaffelt nach Preisniveau der Lebenshaltungskosten im Zielland können Geförderte aus Deutschland mit 330€ bis 450€ monatlich rechnen. Außerdem entfallen die Studiengebühren an der Gastuniversität und das Freiwilligen Netzwerk ESN (Erasmus Student Network) bietet zahlreiche Vergünstigungen für beispielsweise Sportaktivitäten oder Busunternehmen. Zum Vergleich, bei einer Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr sparen ERASMUS Studierende hier 50%, das ESN Netzwerk organisiert zahlreiche Wochenendtrips, die schon bei 30€ anfangen und der Eintritt ist in vielen Clubs und Bars frei oder vergünstigt.
Genau diesen Events von ESN habe ich es vor allem zu verdanken, dass ich bereits in den ersten Tagen unzählige Kontakte schließen konnte und mich sowohl mit spanischen Mentor:innen sowie anderen Erasmus Studierenden vernetzt habe. ERASMUS bietet eine wirklich einmalige Chance um Studierende aus aller Welt kennen zu lernen und garantiert neue Freundschaften. Mit den Kontakten kommen wiederum unterschiedliche Sprachen. Ein Auslandssemester wird unabhängig vom Gastland eine Chance sein mit anderen Internationals viel Englisch zu sprechen und darüber hinaus die ein oder andere Fremdsprache zu lernen. Wer selbst schon einmal vergeblich versucht hat mit Duolingo Italienisch oder Französisch zu lernen wird im Ausland merken, dass es sich im Gespräch mit Kommilit:oninnen, dem/der Surflehrer:in oder dem/der Supermarktkassierer:in quasi von alleine lernt.
Raus aus der Komfortzone

Egal ob fremde Essgewohnheiten, Tagesrhythmen, Sitten oder klimatische Verhältnisse; ein ERAMSUS Semester fordert die eigene Komfortzone heraus. Das führt zu anfänglicher Überforderung und Unsicherheit aber auch Begeisterung und Neugier. Ich saß in der ersten Woche nicht nur einmal im falschen Vorlesungssaal oder habe das richtige Gebäude gar nicht erst gefunden. Im Seminarraum musste ich mich dann unweigerlich fragen was ich überhaupt an Spanisch gelernt habe in den letzten Jahren denn verstanden habe ich Dozent:innen anfangs überhaupt nicht. Ich stand außerdem nicht nur einmal während der Siesta vor einem geschlossenen Supermarkt oder am Abend vor der Tapas Bar denn abendessen tut in Andalusien kaum jemand vor 21 Uhr. Aber genau dieses Chaos stiftet unvermeidlich Flexibilität und Anpassungsfreude denn die Krux an der Komfortzone ist dass es genug Zwang braucht sie zu verlassen um zu merken wie bereichernd es draußen sein kann. Haben wir als junge EU-Bürger:innen nicht auch eine Verantwortung Menschen unserer Nachbarländer kennen zu lernen und bietet ERASMUS da nicht die perfekte Chance?
Im Großen steht das Austauschprogramm für die Förderung von Inklusion, Mehrsprachigkeit, Jugenddialog und Solidarität, für mich sind es in dem Rahmen vor allem die vielen Begegnungen mit hilfsbereiten Menschen beim notgedrungenen Trampen wenn der Bus ausfällt oder wenn ich orientierungslos vor der falschen Fakultät stehe, die meine Zeit hier ausmachen. Dazu gehört das Schmunzeln über unfreiwillig non-verbale Kommunikation wenn sich die ein oder andere Sprachbarriere auftut. Diese Summe von Momente des Chaos, der Skepsis und des Glücks sind für mich ERASMUS ebenso wie die Sprach- und Orientierungslosigkeit welche in den meisten Fällen für herzliche Lacher gesorgt haben. Trotzdem möchte ich die Überforderung nicht romantisieren.
Wo ist der Haken?
So weit so gut aber zu jedem Auslandsaufenthalt gehören auch eine Menge weniger rosa roter Momente. Natürlich bietet ein Auslandsstipendium eine herbe Erleichterung für Student:innen aber noch lange keine finanzielle Freiheit. Die Höhe der Förderung variiert zwar nach Preisniveau des Ziellandes aber beispielsweise in skandinavischen Ländern sind Miete und öffentliches Leben deutlich teurer als in Deutschland. Außerdem wird die erste Förderrate (ca. 70%) erst nach finaler Erstellung der Lernvereinbarung nach Antritt des Aufenthaltes ausgezahlt, was durchaus ein bis zwei Monate dauern kann. Die restlichen 30% des Geldes erhalten Geförderte erst nach der Rückreise.
ERASMUS ist neben neuen Freundschaften, vielen Partys und Ausflügen auch jede Menge Bürokratie. Je nach Hochschule muss sich sieben bis acht Monate vor Semesterbeginn auf einen Platz beworben werden und dann folgt die Erstellung von Lern- und Anrechnungsvereinbarungen. Außerdem muss brexitbedingt für Universitäten in Großbritannien beispielsweise vor der Einreise ein Visum beantragt werden und selbst einige EU-Staaten haben, teils pandemiebedingt, eigene Einreisebestimmungen für diejenigen, die einen längeren Studienaufenthalt antreten möchten. Über verschiedene Verfahren informiert zwar die Heimatuniversität, bei mir hieß das trotzdem unzählige Mails und Sprechstunden bis meine Lernvereinbarung gelang, nur um am zweiten Tag in Spanien über den Haufen geworfen zu werden. Wie nervenaufreibend sich das Prozedere gestaltet, hängt natürlich stark von der Organisation der Universitäten ab, letzten Endes lohnt es sich aber.
Neue Horizonte
…während diese Floskel in jedem zweiten Motivationsschreiben auftaucht, bringt sie die ERAMSUS Erfahrung tatsächlich gut auf den Punkt. Vielleicht sind es in der Summe gar nicht die neu erworbenen Sprachkenntnisse sondern die zahlreichen kleinen Momente und Begegnungen die alte Perspektiven in Frage stellen und ERASMUS zu einem Muss machen. Sind ‚Softskills‘ nicht zu dem Trendbegriff in der Job Szene geworden? Ich bin mir zwar nicht sicher inwiefern nonverbale Kommunikation dazu gehört aber Flexibilität, Networking Skills und Selbstständigkeit sind nur ein paar der Kompetenzen, die sich im Rahmen eines Auslandssemesters ganz von alleine erwerben lassen. Davon ab ist die ERASMUS Erfahrung ganz simple gesagt jede Menge Spaß. Natürlich geht es bei einem Hochschulaustausch auch um das Studium, das lässt sich beim Beach Volleyball, Roadtrips, Language Exchanges und Partys aber auch schnell vergessen. Wer ein Semester also entspannter angehen möchte, der findet im Ausland genug motivierte Leute aus aller Welt und die Möglichkeit neben dem Studium an den Wochenenden ein fremdes Land zu bereisen oder neue Hobbies auszuprobieren, das kann das Wellensurfen in Spanien oder Langlaufen in Finnland sein.
Tipps zum Schluss
Auch wenn ERASMUS Studierenden egal ob noch an der Heimat- oder schon oder an der Gastuniversität immer Ansprechpartner:innen zur Seite stehen ist der ein oder andere Tipp aus eigener Erfahrung vielleicht hilfreich.
- Das Anonymitätslevel hängt stark von der Größe der Stadt ab. Während ich in Almería bereits nach einer Woche im Supermarkt oder auf der Straße bekannte Gesichter getroffen habe, ist es in größeren Städten schier unmöglich, alle Erasmus Studierenden kennen zu lernen. Mir haben die Überschaubarkeit und familiäre Atmosphäre sehr geholfen mich schnell einzuleben aber auch Großstädte haben ihre ganz eigenen Reize.
- Die Kurswahl an der Gastuniversität kann sich etwas komplizierter gestalten und Kurse sind nicht unbedingt kongruent zu denen der eigenen Universität. So hat sich bei der deutlichen Mehrheit meiner Kommiliton:innen der Stundenplan öfter verschoben weil sich Kurse überschneiden, nicht anrechnungsfähig sind oder die Unterrichtssprache plötzlich geändert wurde. Es ist also keine Seltenheit sondern eher der Regelfall, dass deutlich weniger Leistungspunkte des Auslandssemesters transferiert werden und sich dadurch der Studienverlauf verschiebt oder sogar verzögert. Es kann hilfreich sein sich über Datenbanken der Universitäten wie beispielsweise Halle oder Hamburg mit Hilfe von Erfahrungsberichten über Kursangebot aber auch Mietpreise und Weiteres zu informieren. Mir haben diese die Wahl der Gasthochschule erleichtert.
- Vorsicht bei der Wohnungssuche! Wer in Deutschland bereits den Mietvertrag für ein WG Zimmer im Ausland unterschreiben möchte sollte sich auf offiziellen Mietportalen umsehen oder sich von ESN Mentor:innen Hilfe holen. Bei Anzeigen über Facebook und co wurden einige meiner Mitstudierenden gebeten horrende Kautionen zu bezahlen und haben dann von den Vermieter:innen nichts mehr gehört. Es kann also gerade bei weniger seriösen Anzeigen schnell zu Betrugsfällen kommen. Daher bietet es sich an vielleicht schon etwas früher anzureisen, vor Ort nach einer WG zu suchen und die Stadt kennen zu lernen.
- Um sich bereits vor Antritt des Semesters zu vernetzen oder erste Kontakte zu knüpfen ist ESN auf unterschiedlichsten Social-Media-Kanälen sehr aktiv. Wer sich also vorher bereits vor Beginn über Ausflüge, Aktivitäten und Orientierungseinheiten informieren möchte sollte sich auf Facebook, Instagram und co schlau machen. Viele meiner Mitstudierenden sind außerdem bereits einige Zeit vor Semesterstart angereist um die Stadt und Leute kennen zu lernen.
- ERASMUS+ fördert nicht nur Studienaufenthalte sondern vermittelt auch Praktikumsplätze im Ausland. Wem ein oder zwei Semester also zu lange sind oder wer ein Auslandssemester schlecht mit dem Studienverlauf vereinbaren kann der kann sich hier über Praktikumsplätze und andere Fördermöglichkeiten informieren.
Mit ERASMUS führen also viele Wege ins Ausland und ich kann es jedem nur von Herzen empfehlen einen davon einzuschlagen.
