„Alles Leben ist Leiden“ ist eine zentrale Lehre des Buddhismus. Jede:r von uns wird in seinem/ ihrem Leben mit verschiedenen Formen des Leidens konfrontiert. Mit diesen Hindernissen klarzukommen, mit ihnen zu leben oder sie zu überkommen, ist eine zentrale Aufgabe im Leben jedes Menschen.
Was passiert, wenn dieses Leid von anderen zur Unterhaltung genutzt wird? Was, wenn andere Menschen Geld damit verdienen, deine Leidensgeschichte der ganzen Welt mitzuteilen? Wenn sie in Büchern mit reißerischen Titeln deine Geschichte niederschreiben? Wenn sie sich gemütlich mit einer Flasche Rotwein vor ein Mikrofon setzen und versuchen zu analysieren warum dir genau dieses Leid widerfahren ist? Was macht das mit dir?
Ich selbst kann diese Frage nicht beantworten. Mir sind noch keine Dinge widerfahren, die in Zeitungen, Büchern oder Podcasts thematisiert wurden. Doch der True Crime Markt erfährt in den letzten Jahren einen regelrechten Boom. Es werden immer mehr Formate aus dem Boden gestampft, in denen die wahren Leidensgeschichten von vielen Opfern und Überlebenden verschiedenster Straftaten lang und breit ausgeschlachtet werden. Wieso erfreuen sich diese Geschichten einer solchen Beliebtheit?
Einem Artikel der Rasmussen Universität zufolge wird das Verlangen nach Geschichten über wahre Verbrechen von verschiedenen Bedürfnissen angetrieben. Als ersten Grund nennt der Artikel das Bedürfnis danach, zu verstehen was Menschen dazu bringt Straftaten zu begehen. Es geht also weniger darum, direkt zu erfahren was die Täter:Innen verbrochen haben, sondern eher warum sie es taten. Dazu werden in vielen True Crime Formaten Expert:Innen eingeladen, die für das Publikum in die Köpfe der brutalsten Serienmöder:Innen „schauen“ und sie entschlüsseln. Aufgrund der hohen Nachfrage nach solchen Expert:Innen ist allerdings fraglich wie viel Wissenschaft hinter solchen Aussagen steckt. Eine Reportage des ZDF Magazin Royal untersuchte die Hintergründe von drei gefragten Profiler:Innen der deutschen True Crime Szene. Nur einer von ihnen hatte tatsächlich kriminalistische Vorerfahrungen. Diese wurden jedoch nicht, wie beworben, in Mordermittlungen, sondern im Rauschgiftbereich gesammelt. Kann ein Drogenermittler also wissenschaftlich fundierte Aussagen über die Beweggründe von Serienmördern treffen? In den Augen vieler True Crime Redakteur:Innen kann er das, solange er sich selbst als Profiler bezeichnet. Dass der Begriff „Profiler“ in Deutschland keine geschützte Berufsbezeichnung ist, also keine einheitlichen Ausbildungsstandards festgelegt wurden und sich jede/r selbst so bezeichnen kann, scheint bei der Suche nach Expertentum zweitrangig.
Eine wissenschaftliche Einordnung kann sicherlich auch von Laien getroffen werden. Besonders bei psychologischen Themen sollte dabei die Aktualität der wissenschaftlichen Theorien beachtet werden, auf denen sich die Einordnung stützt. Im letzten Jahrzehnt wurde die psychologische Forschung und insbesondere deren Methoden stark hinterfragt. Auslöser davon war die Beobachtung, dass einige Studien, die populäre Forschungsergebnisse falsifizierten, nicht veröffentlicht wurden. Das bedeutet, dass die psychologische Forschung Ergebnisse bevorzugt, die ein bestehendes Bild unterstützen und damit nicht mehr objektiv ist. Die psychologische Forschung antwortet mittlerweile durch eine Open Science Bewegung darauf.
Wenn ein Laie sich an der Einordnung von Täterverhalten also auf Theorien stützt, die auch in den letzten Jahren immer wieder repliziert wurden, kann davon ausgegangen werden, dass sie dem aktuellen Forschungsstand entsprechen. Wenn also veraltete Theorien genutzt werden, um schwere Straftaten nachvollziehen zu können, ist dies nicht der Fall.
Leider wird bei der Recherche von True Crime Formaten nicht immer auf die wissenschaftliche Aktualität Rücksicht genommen. So verweisen mehrere Formate immer wieder auf die sogenannte MacDonald Triade. In ihr werden 3 „Frühwarnsignale“ beschrieben, die voraussagen sollen, dass ein Kind später ein/e Serienmörder/in oder ein/e Gewaltverbrecher/in wird. Dass alle Kinder, die brandstiften, ins Bett machen und Tiere quälen später Schwerverbrecher werden, war eine Idee aus den 1960er Jahren, die in der heutigen psychologischen Forschung keinen Platz mehr findet. Leider findet sie mittlerweile wieder traurige Berühmtheit und lädt zum Schubladendenken ein.
Einen weiteren Grund für unsere Faszination für wahre Verbrechen sieht der Artikel der Rasmussen Universität in unserem Verlangen nach Gerechtigkeit. Wenn Zuschauer:Innen oder Zuhörer:Innen mit den Details wahrer Verbrechen konfrontiert werden, dann können sie miträtseln. Bei ungeklärten Verbrechen erscheint es besonders verlockend, selber daran mitwirken zu können, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt. Allerdings lauern auch hinter diesem Bedürfnis Fallen. Eine offensichtliche Falle liegt in Falschbeschuldigungen. Da nur sehr wenige True Crime Formate mit den Ermittlungsbehörden direkt im Kontakt stehen, wird deren Erzählweise stark von der vorangegangenen Berichterstattung über die einzelnen Fälle geprägt. Fälle, wie beispielsweise die Anschuldigungen gegenüber dem Journalisten Jörg Kachelmann zeigen, dass eine solche Einflussnahme schwere Folgen für Unschuldige haben kann.
Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit ist eng mit unserem Glauben an eine gerechte Welt verbunden. In der Sozialpsychologie wird dies „just world belief“ (nach Dalbert, 1996) genannt. Das Streben nach Gerechtigkeit lädt dazu ein, die Schuld für ein Verbrechen an die Opfer abzuwälzen. Die Erkenntnis, dass unsere Welt ungerecht ist und schwere Tragödien zufällig jeder oder jedem von uns passieren können, ist für viele Menschen sehr schmerzhaft. Tröstlicher ist die Idee, dass solche Tragödien aus einem gewissen Grund passieren, sei es Gottesstrafe oder Karma.
Damit tun wir den Geschädigten unrecht. Der True Crime Hype an sich hat nicht das Ziel Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen. Das Ziel ist es, sich mit gruselig wahren Verbrechensgeschichten zu unterhalten und den Themen Leid, Tod und der eigenen Vergänglichkeit ein kleines Stück Platz einzuräumen. Damit verdienen viele Redaktionen gutes Geld, Schwerverbrecher:Innen erhalten neue Plattformen und die Menschen, die unter den Verbrechen gelitten haben, können sich oft nicht mehr darüber beschweren, dass ihr Privatleben in die Öffentlichkeit gezerrt wird.
Ich selbst habe in den letzten Wochen angefangen meinen True Crime Konsum zu hinterfragen. Mein Bild von diesen Formaten befindet sich mittlerweile in einem Zwiespalt zwischen harmloser Unterhaltung und fragwürdiger Gafferei. Nicht alle Formate arbeiten mit fragwürdiger Expertise und Vorverurteilung, daher lohnt es sich die Augen bei der Unterhaltungssuche offen zu halten.