Seenotrettung auf dem Mittelmeer: Da ist mehr als nur eine Geschichte

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Bildnachweis: © Sea-Eye.org / Pavel D. Vitko

Ein Report-Interview über die Arbeit auf der „Sea-Eye4“.

Kai Echelmeyer hat Mathematik studiert. Der 27-Jährige verließ dafür seine Heimat im Münsterland und lebt jetzt in Köln. Ein Weg, der für viele junge Menschen sehr aufregend sein kann. Doch gibt es viele Erwachsene, Jugendliche und sogar Kinder, die einen schwereren und vor allem gefährlicheren Weg auf sich genommen haben. Durch seinen Beruf und sein ehrenamtliches Engagement ist Kai einigen dieser Menschen begegnet. Mit seinem Mathe-Studium hat das aber nichts zu tun. 

Kai engagiert sich schon seit Jahren ehrenamtlich für unterschiedliche Organisationen. Zum Beispiel für die Seenotrettung der „Seebrücke“. Wenig später dann auch für „Sea-Eye“. Dort arbeitet er heute als Referent für den Bereich Mitglieder und Ehrenamt. Er betreut diejenigen, die sich an Land ehrenamtlich für „Sea-Eye“ engagieren. Kais Arbeit für „Sea-Eye“ geht aber über seinen Vollzeit-Job bei der Organisation hinaus. Er ist nun schon bei zwei Missionen auf dem Mittelmeer dabei gewesen. Die letzte, bei der er mitfuhr, fand im September 2021 statt. Da hat er während seiner Urlaubstage auf der „Sea-Eye4“ mitgeholfen. 

Info: „Sea-Eye“ ist eine Seenot-Rettungsorganisation, die 2015 als kleiner Verein in Regensburg gegründet wurde. Heute ist „Sea-Eye“ eine mittelgroße NGO mit rund 20 Angestellten und mehreren hundert Ehrenamtlichen. Teil der Organisation ist das Rettungsschiff „Sea-Eye4“. Seit 2016 hat „Sea-Eye“ (inklusive der 800 Personen, die am 04. November 2021 von der Crew aufgenommen wurden) über 16.000 Menschen in Sicherheit bringen können.

Wie der Alltag auf dem Rettungsschiff aussieht, ist gar nicht so leicht zu beschreiben. „Nach einer gewissen Zeit stellt sich natürlich schon ein Alltag auf dem Schiff ein. Bis ein Notruf kommt. Ab da ist dann alles anders. Wenn wir Menschenleben retten.“ Oft sind das ziemlich viele Personen auf einmal. Kai nennt das „eine absolute Ausnahmesituation für alle“.

Die „Sea-Eye4“ ist 55 Meter lang und damit ziemlich groß. Deshalb befinden sich zwei kleine Schnellboote an Bord (6-7 Meter), mit denen besser an die in Not geratenen Boote heranzukommen ist. Die Schnellboote werden im Einsatz so schnell wie möglich zu Wasser gelassen und steuern das Ziel meist mit drei Personen an Bord an. So ist es leichter möglich, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Da geht es um den Zustand des jeweiligen Bootes, aber vor allem den Zustand der Menschen. Gibt es verletzte oder verstorbene Personen an Bord? Wie viele Kinder oder vielleicht Schwangere? Diese Informationen werden an die „Sea-Eye4“ weitergeleitet. Kai meint, das dauere vielleicht eine Minute.

Die „Sea-Eye4“ bleibt bei diesem ersten Teil des Einsatzes in der Nähe, hält aber Abstand. Damit niemand auf die Idee kommt, ins Wasser zu springen, herüberzuschwimmen und sich damit in noch größere Gefahr zu bringen. Vom Schnellboot aus können dann auch erste Versuche unternommen werden, die angetroffenen Menschen zu beruhigen, falls Aufregung herrscht. Nach dem ersten Abschätzen der Situation werden dann unverzüglich Rettungswesten verteilt. Nach und nach können die Personen dann mit den Schnellbooten zur „Sea-Eye4“ transportiert werden. Hier käme das Vorgehen aber sehr auf die individuelle Situation an. „Auch das gibt es natürlich, dass wir ankommen und das Boot ist schon halb gekentert. Menschen schwimmen oder treiben im Wasser.“ Diese würden natürlich zuerst gerettet.

Für alle an der Rettung Beteiligten ist das ein absoluter Extremzustand. „Es ist schon eine sehr besondere Situation. Es ist ziemlich bewegend. Bei den Einsätzen, bei denen ich dabei war, war es zum Glück so, dass die Menschen nicht direkt im Wasser waren. Wir waren mal bei einem Holzboot, in das schon Wasser lief, aber die Leute waren relativ ruhig und erleichtert, als sie merkten, dass sie in Sicherheit gebracht werden.“ Später sagt Kai noch dazu: „Das ist auch ein schöner Moment – irgendwie. Wenn die Menschen realisieren, dass sie gerettet werden und erleichtert sind.“

Kai hat auf dem Mittelmeer Menschen getroffen, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen auf die gefährliche Überfahrt gemacht hatten. Oft seien es Krieg und Verfolgung im eigenen Heimatland gewesen. Aber auch fehlende wirtschaftliche Perspektiven. Bei Frauen, meist aus Westafrika, die Angst vor einer drohenden Genitalverstümmelung, vor der sie sich oder ihre Kinder bewahren wollen. Es seien aber nicht nur afrikanische Länder. Die Geretteten kämen auch aus Syrien, aus dem Jemen, sogar aus Bangladesch. Frauen und Männer. Ganze Familien oder auch unbegleitete Minderjährige.

Im letzten September hatten Kai und die Crew zwei Hochschwangere dabei. „Es ist unglaublich, dass man sich dann auf diese unfassbar gefährliche Überfahrt begibt. Das zeigt, wie verzweifelt die Menschen sind.“ Weiter: „Die Menschen beschreiben das, was sie erlebt haben als Hölle.“ Zu ertrinken sei besser, als zu bleiben, gibt Kai die Gespräche wieder. So sprach er im September mit zwei Frauen aus Libyen, die sich aus Angst vor einer Vergewaltigung nicht mehr trauten, das Haus zu verlassen. Und 15-Jährige, für die es normal war, gesehen zu haben, wie jemand erschossen wird. „Das lässt einen kaum noch los, wenn man die Geschichten hört. Und es ist nochmal etwas anderes, das von den Menschen direkt zu hören.“

Ins Gespräch mit den Geretteten ist Kai auf den Fahrten oft gekommen. Zum einen, weil viel Zeit auf dem Schiff verbracht werden musste, bevor ein sicherer Hafen angesteuert werden durfte. Zum anderen, weil dies (zumindest auf seiner ersten Mission) zu Kais expliziten Aufgaben als Menschenrechtsbeobachter zählte. Über das Erlebte sprechen. Zuhören. Und Hintergründe verstehen. Auf der Mission im September war Kai ebenfalls für die Betreuung der Geretteten zuständig. „Das ist der direkteste Kontakt. Da erzählen die Menschen auch von sich aus viel. Da musste ich auch nicht viel nachfragen“.

Die Position eines*einer Menschenrechtsbeobachter*in gibt es auf der „Sea-Eye4“ heute aber nicht mehr, denn diese war zur wissenschaftlichen Beobachtung der Situationen gedacht. Mit den großen Zahlen an Menschen, die die „Sea-Eye4“ regelmäßig an Bord hat, ist das nicht mehr möglich. Auf Kais letzter Mission waren es um die 400. Bei der aktuellen sogar 800. Auf einem Schiff, das für 200 Personen ausgelegt ist. Das könne sich sogar Kai kaum vorstellen. „Da braucht man gar nicht versuchen, mit einzelnen Gespräche zu führen. Da geht es dann einfach nur darum, die Menschen irgendwie zu versorgen.“

Kai ist sich des Risikos für seine mentale Gesundheit durch die Missionen bewusst. Es sei eine Belastung. Und, vor allem, eine Belastung, die im Vorfeld nur schwer einzuschätzen sei. Kai ist froh, dass sich genug Freiwillige finden, die dieses Risiko auf sich nehmen. An Land über das Thema zu sprechen und es weiterzutragen fände Kai aber mindestens genauso wichtig. Der Grund: „Wir sollten da nicht herausfahren müssen. Das sollte kein ehemaliger Mathematik-Student machen. Das sollte durch die Anweisung von Politiker*innen passieren.“

Die jüngste Mission der „Sea-Eye4“ startete vor gut 2 Wochen. Gleichzeitig war die „Rise Above“ von der deutschen Organisation „Mission Lifeline“ im Mittelmeer unterwegs. Ein schnelleres, aber kleineres Schiff als die „Sea-Eye4“. „Eine fruchtbare Kooperation“, sagt Kai dazu. Die beiden Crews haben so sieben Rettungen durchführen können. Nach den ersten sechs Rettungen befanden sich 397 Menschen an Bord. Schon zu diesem Zeitpunkt war das Rettungsschiff mehr als überfüllt. Dann erreichte ein siebter Notruf die „Sea-Eye4“. Ein Holzboot mit über 400 Menschen. Trotz Überfüllung war die Crew nicht bereit, den Notruf zu ignorieren und bot an, zumindest bei der Stabilisierung des Boots zu helfen. Das Team hoffte darauf, dass die „Ocean Viking“ von der Organisation „SOS Méditerranée“, die ebenfalls unterwegs war, die Menschen aufnehmen würde. 

Als die „Sea-Eye4“ bei dem in Seenot geratenen Holzboot ankam, musste die Crew jedoch feststellen, dass bereits Wasser in das Boot hineinlief. Es blieb keine Zeit und die „Sea-Eye4“ nahm die mehr als 400 zusätzlichen Personen auf. Damit befanden sich nun über 800 Menschen an Bord. Als erstes Ziel wurde Malta angesteuert. Das EU-Land reagierte jedoch nicht auf den Notruf des Rettungsschiffs. Auch auf Lampedusa durfte die „Sea-Eye4“ nicht anlegen. Die erlösende Nachricht kam am 07.11. Die „Sea-Eye4“ durfte im Hafen Trapani auf Sizilien einfahren. Erst Tage nach der Rettung. Eine schier unvorstellbare Situation. Kai sieht dafür klare Ursachen und kritisiert die fehlende Übernahme von Verantwortung durch die Politik.

„Es muss dafür gesorgt werden, dass Menschen gar nicht erst ihre Heimat verlassen müssen.“ Es sei wichtig, Fluchtursachen aktiv auf politischem Wege zu bekämpfen. Jedoch: „Das ist aber auch schnell so eine Floskel, die Politiker*innen verwenden und mal so sagen. Und vielleicht als Ausrede nutzen, um nichts konkretes zu tun.“ Kai findet, es solle stattdessen ein Schritt zurückgegangen werden. „Wir müssen aufhören Fluchtursachen zu schaffen. Das ist eigentlich der Punkt. Und erst recht die Begründung dafür, dass die Situation im Mittelmeer unsere Verantwortung ist.“ Kai sieht viele Fluchtursachen von der westlichen Welt geschaffen. „Es gibt noch immer ex-koloniale Strukturen und noch immer Ausbeutung. Wir müssen aufhören, andere Menschen auszubeuten. Der westliche Wohlstand ist aufgebaut auf dem Leid an anderen Orten.“

Kai ist es wichtig, neben den traurigen auch schöne Geschichten von seinen Missionen weiterzugeben. Sonst entstünde ein zu einseitiges Bild. Damit nimmt er sich ein Beispiel an der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie und ihrem Ted Talk über die Gefahr einer einzelnen Geschichte („The Danger of a Single Story“). Die Gefahr darüber, nur eine Geschichte über einen Menschen zu kennen und ihn oder sie dann allein über diese Geschichte zu definieren. Einen Menschen zu einer einzelnen Geschichte werden zu lassen. Die von der „Sea-Eye4“ geretteten Menschen allein als Opfer zu sehen, werde ihnen nicht gerecht. „Das ist eben nicht alles, was diese Menschen ausmacht.“ Gerade im öffentlichen Diskurs sieht Kai hier ein Problem. „Dazu trägt man natürlich auch bei, wenn man nur die schlimmen Geschichten der Menschen erzählt. Deshalb ist es mir wichtig, anderen auch alltägliche Geschichten und Begegnungen mitzugeben.“

„Es gibt auch schöne Momente. Zum Beispiel, wenn man zusammen Musik macht. Häufig spreche ich mit den Leuten über Fußball. Wir haben zwischendurch Kartenspiele gespielt.“ Kai sagt auch, dass die Teenager*innen, auf die er auf seinen Missionen trifft, die gleichen Gedanken hätten, wie Jugendliche in Deutschland. Die Gewalt und das Leid, das die Geretteten erfahren haben sei eben nicht alles, was sie ausmache. „Es sind so viele verschiedene Charaktere. Und es ist eine Bereicherung, jeden einzelnen davon kennenzulernen.“

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