Von Syrien nach Deutschland: Eine Geschichte über Mut, Fleiß und Lebensfreude.
Endlich 18 und fertig mit dem Abitur – viele zieht es da erstmal ins Ausland. Neue Erfahrungen sammeln, reisen und spannende Menschen kennenlernen. In Deutschland kommt das oft vor. Auch Omar verließ nach dem Abitur und den ersten beiden Semestern an der Uni seine Heimat. Jedoch aus einem ganz anderen Grund.
Geboren ist Omar in Saudi-Arabien. Dort wurde er eingeschult, zog dann aber mit seiner Familie nach Syrien, als er in die zweite Klasse kam. Omar beschreibt sich als anpassungsfähig. Dies hinge mit seiner Vergangenheit zusammen und mit dem Weg, den er zurückgelegt hat. Der heute 24-Jährige brach mit 18 nach Deutschland auf, um dort ein neues Leben zu beginnen. Um seine Ankunft soll es in diesem Beitrag gehen.
Rückblickend hat Omars Weg ihm geholfen, sich auch heute an widrige Bedingungen anpassen zu können. Auf sozialer, aber auch auf beruflicher Ebene. Es fiele ihm leicht, Probleme auf seine Art zu lösen und dabei innovativ und kreativ zu handeln. „Outside-the-Box-Denken“ nennt er das. Anwendung fänden Omars Problemlösefähigkeiten zum Beispiel bei seinem Job in der Innovationsabteilung der „Welthungerhilfe“, wo er bis vor kurzem tätig war.
Um zu verstehen, wie Omar dorthin gelangt ist, muss jetzt aber um sechs Jahre zurückgespult werden. In die Zeit nach seinem Abitur. Damals lebte Omar noch in Damaskus und hatte bereits ein Jahr studiert. Und er traf eine Entscheidung, die er heute als die beste seines Lebens bezeichnet. Er machte sich auf den Weg nach Deutschland. Und zwar ohne seine Familie.
Omar ist extrovertiert und hat gern Menschen um sich. Davor, eine neue Sprache lernen zu müssen, hatte er deshalb keine Angst. Sorgen machte er sich eher darüber, ob die deutsche Kultur zu ihm passen würde und ob er Freunde finden könnte, bei denen er sich wohlfühlen würde. Spoiler: Diese Sorge ist schon lange verflogen. Omar wurde zunächst in einem kleinen Dorf in NRW untergebracht. Dort lebte er in einem Container. Mit 12 Menschen auf engstem Raum. Und wäre das nicht schon genug, herrschten zudem schlechteste Hygiene-Verhältnisse. Schimmel. Und Gestank. Er war alles andere als glücklich in dieser Zeit und begann, an seiner Entscheidung zu zweifeln.
Von einem Teil der Dorfgemeinde wurde Omar auch nicht freundlich empfangen. Er fühlte sich fremd und in Schubladen gesteckt. Dieser Effekt wurde durch die Sprachbarriere verstärkt. Und mit seinem (sehr guten) Englisch kam er anfangs auch nicht weit. Sobald er jemanden auf Englisch ansprach, bekam er deutsche Antworten, die er nicht verstand. Omar wurde kreativ. In einer Einrichtung, in der syrisch-deutsche Treffen stattfanden, hing er ein Plakat auf. Dort bot er seine Arbeit an: Babysitten, Holz hacken, Gartenarbeit. Egal was. Dafür wollte er kein Geld – sondern Deutsch beigebracht bekommen. „Da hat mein Weg angefangen“, erinnert er sich.
Denn tatsächlich: Eine Familie aus dem Dorf meldete sich. Omar sollte gelegentlich bei der Gartenarbeit helfen. Er nutzte diese Chance und brachte an jedem Tag, an dem die Familie ihn einlud, ein Heft mit und schrieb sich auf, was zu ihm gesagt wurde. Wenn er also auf Deutsch angesprochen wurde, notierte sich die neuen Vokabeln und fragte, was sie bedeuten. Die Verständigung funktionierte dann mit dem wenigen Englisch, das in der Familie gesprochen wurde. Und im Notfall tat es auch der Google-Übersetzer.
Omars Hilfsbereitschaft und seine Initiative Deutsch lernen zu wollen sprachen sich im Dorf herum. Mit der Zeit half er auch anderen Familien in Garten und Haushalt und sein Deutsch verbesserte sich. Bald war es gut genug, dass er selbstständig mit Büchern lernen konnte. Jede Nacht vor dem Schlafengehen wiederholte er neue Vokabeln, um sie am nächsten Tag während seiner Gespräche bei der Arbeit einbinden zu können. Um Omar bildete sich ein kleines Netzwerk. Und so kam bald eine neu gewonnene Bekannte auf ihn zu und riet ihm, sich im örtlichen Krankenhaus auf ein Praktikum zu bewerben, wo er kurz darauf anfangen durfte. Sein Deutsch war zu diesem Zeitpunkt schon gut genug, dass er sich ein wenig mit den Patient:innen unterhalten und seinen Wortschatz so noch weiter ausbauen konnte.
Nach seinem Praktikum musste Omar seine bisherige Unterkunft verlassen. Was wie ein Lichtblick klang entpuppte sich leider als Enttäuschung. Fliegen in den Zimmern und Maden in der Küche: Omar hatte noch immer keinen Ort gefunden, den er zu Hause nennen konnte. Doch sein Fleiß und sein Wille zur Integration zahlten sich aus: Die Familie, der er anfangs im Garten geholfen hatte, nahm ihn bei sich auf. Dort lebte er ein paar Monate und war froh, seine Unterkunft verlassen haben zu können.
Der nächste Schritt auf Omars Weg war besonders vom Schicksal geprägt. Eines Nachts träumte er vom Theater, denn schon als Kind war er oft und gerne aufgetreten. So entstand in ihm der Wunsch, wieder auf der Bühne zu stehen. Diesen setzte er auf die wohl pragmatischste Weise um: Mit einem Bekannten machte er sich auf zum nächsten Theater und fragte nach, ob er dort arbeiten könne. Und noch am selben Tag unterzeichnete er einen Vertrag.
Sofort auf die Bühne durfte Omar aber nicht. Zunächst übernahm er kleinere Aufgaben in der Regie. Dann die Regieassistenz. Er verbrachte den ganzen Tag im Theater. Das Theaterpersonal war mit seiner Arbeit zufrieden. Und dann war es endlich soweit: Omar bekam seine erste Rolle angeboten. Er freute sich riesig. In der Komödie „Heiße Zeiten“ sollte er einen Flughafenmitarbeiter spielen. Eine Nebenrolle, sogar mit einigen Dialogen. Aber: Die Rolle war auf Deutsch. Kompliziertes Theater-Deutsch. Omar verstand kaum, was er auf der Bühne sagen sollte oder wie die Wörter korrekt ausgesprochen wurden. Der Regisseur des Stücks kam ihm zur Hilfe. Er schickte Omar Sprachnachrichten über WhatsApp, in denen er ihm seine Rolle vorsprach. Und was Omar nicht verstand, versuchte er auf der Bühne nachzuahmen.
Erst während seiner Zeit im Theater bekam er die Möglichkeit, einen Deutschkurs zu machen. Zuvor hatte die Stadt noch keine Finanzierung bewilligt, worauf Omar jedoch angewiesen war. Das Angebot nahm er sofort an, denn er wünschte es sich, auf Deutsch studieren zu können. Da Omar fleißige Vorarbeit geleistet hatte, konnte er die Anfänger:innenkurse überspringen und direkt mit dem Sprachniveau „B1+“ beginnen.
Ein Jahr war nun seit seiner Reise verstrichen. „Das erste Jahr, das ich in Deutschland verbracht habe, war das allerschwierigste Jahr meines Lebens. Das war schlimm.“ Er war getrennt von einem großem Teil seiner Familie. Von seinen Freund:innen, seiner ehemaligen Partnerin und überhaupt von seinem gesamten sozialen Umfeld, wie er es vorher kannte. Dann die anfangs furchtbaren Wohnbedingungen und die schlechten Reaktionen vieler Menschen im Dorf. Omar hatte sich oft diskriminiert gefühlt. „Das konnte ich mir nicht vorstellen. Dass ich so eine Situation mal erlebe.“ Zwar habe Omar sich vor seiner Reise Gedanken über Diskriminierung gemacht. Er sagt jedoch, sich Diskriminierung vorzustellen sei etwas ganz anderes, als sie tatsächlich zu erleben. Darüber spreche er nicht gern.
Nach seiner Arbeit im Theater machte Omar ein weiteres Praktikum, in dem er erfuhr, dass es in Deutschland den Studiengang „Wirtschaftspsychologie“ gibt. In seinem Heimatland Syrien gab es dies nicht, er hatte BWL studiert. In der Wirtschaftspsychologie kamen zwei Interessen Omars zusammen. Wirtschaft und Psychologie. Perfekt. Vor drei Jahren hat Omar das Studium aufgenommen. Auf Deutsch. In seiner Studienstadt fand er schnell Anschluss und schloss zahlreiche Freundschaften. Diskriminierende Situationen seien seltener geworden. Ein Moment bliebe Omar jedoch bis heute deutlich in Erinnerung. Die Diskriminierung durch einen Dozenten. Gegen die ging Omar aktiv vor. Seine Beschwerde drang bis an den Kanzler seiner Universität heran.
Omar betont immer wieder, nach Deutschland zu kommen sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen. Er ist gerade mit seiner Bachelorarbeit fertig geworden. Und die WG, in der Omar heute lebt, kann er endlich sein zu Hause nennen. Omar arbeitet auch nach seinem Bachelor für die Welthungerhilfe. Allerdings wechselte er von der Innovations- in die Engagement-Abteilung. Er ist jetzt keine studentische Aushilfe mehr, sondern Eventmanager. Außerdem legt er als DJ auf und arbeitet mit einem Team an der Entwicklung der App „Party Crib“, mit der er den deutschen Eventmarkt auffrischen möchte. Die Plattform soll Veranstalter:innen und Party-Gäste miteinander vernetzen.
Durch die Dinge, die Omar in Syrien gesehen und erlebt hat, habe er ein anderes Problembewusstsein entwickelt, als viele seiner Freund:innen in Deutschland. Er sei jemand, der sich nicht in Kleinigkeiten hereinsteigere. Der Ruhe bewahren könne, wenn es darauf ankommt. Der sich in Stresssituationen auf das Wesentliche konzentrieren und rationale Entscheidungen treffen könne. Und gleichzeitig sollen auch Spaß und Lebensfreude in seinem Leben nicht zu kurz kommen. Omars Message: In eine scheinbar ausweglose Situation zu geraten, kann Vorteile haben. Gerade wenn es um Umstände geht, auf die Du selbst keinen Einfluss hast. Externe Probleme können oft einen Weg zu neuen Möglichkeiten ergeben, die Dir verschlossen geblieben wären, wäre das Problem nicht aufgekommen. Neue Probleme führen zu neuen Perspektiven.