Kommentar
„Es wird keine Impfpflicht geben“ – wohlwollend könnten die Worte Angela Merkels aus dem Juli 2021 als optimistisch bewertet werden. Objektiv waren sie fahrlässig. Für eine Jahrhundertkrise wie die Coronapandemie sind sie äußerst absolut. Schließlich kann sich die Lage Dank Mutationen täglich ändern. Während andere Entscheidungen der Bundesregierung sonst immer mit dem Zusatz „Unter den aktuellen Bedingungen“ oder „Fürs erste“ versehen wurden, klingt Merkels Versprechen endgültig.
Als Merkel es vor etwa einem halben Jahr aussprach, war die Corona-Welt in Deutschland noch eine andere. Die Impfkampange der Bundesregierung erreichte zu dieser Zeit ihren Höhepunkt. In den Wochen zuvor entbrannte im Land ein regelrechter Kampf um Impftermine. Formal pflegten plötzlich hunderttausende Deutsche ihre Angehörigen, um so in die Priorisierungsgruppe aufzusteigen. Andere fälschten sogar Abreitsplatzbescheinigungen oder Geburtsurkunden, um früher an einen Impftermin zu gelangen, als eigentlich vorgesehen.
Von Außen betrachtet schien der Strom an Impfwilligen nicht abreißen zu wollen. Dann wäre eine Impfpflicht in Deutschland nicht nötig gewesen. Offensichtlich beurteilte die Bundesregierung die Lage ähnlich. Dass dies eine fatale Fehleinschätzung war, zeigte sich in den Monaten danach. Während im September Senioren und Risikopatienten bereits ihre Booster-Impfung erhielten, blieben knapp 30 Prozent der Deutschen ungeimpft – die meisten von ihnen sind es bis heute. Es gibt Menschen, für die ist aufgrund ihres jungen Alters noch kein Impfstoff zugelassen, es gibt Menschen, die können wegen bestimmten Vorerkrankungen keine Impfung erhalten und es gibt Menschen, die wollen sich nicht impfen lassen. Letztere machen den absoluten Großteil der Ungeimpften aus.
Überraschend ist das eigentlich nicht. Wer die gesellschaftlichen Spannungen in Deutschland seit Ausbruch der Pandemie verfolgt hat, hätte vorhersehen können, dass insbesondere rechtsextreme Gruppierungen wie die AfD oder die sogenannte „Querdenker-Bewegung“ die deutsche Impfkampagne torpedieren würden. Während die AfD seit Jahren ohnehin in rechts-populistischer Manier gegen alles hetzt, was wissenschaftlich Hand und Fuß hat, gründete sich die deutsche Querdenkerbewegung auf dem Rücken der Pandemie. In ihr versammelten sich neben Rechtsextremen und offensichtlichen Neofaschist*innen auch Verschwörungsideolog*innen und Esoterik-Fans. Viele ihrer Anhänger*innen sind all das in einem. Von sich nehmen sie an, kritischer zu denken, als der Durchschnitt, den Staat (oder wer auch immer vermeintlich dahinterstehen soll) durchaut zu haben. Die Erleuchteten. Tatsächlich aber übernehmen sie blind die kruden und völlig irrsinnigen Thesen ihrer Wortführer*innen, die daraus häufig Profite schlagen, und kämpfen (teils mit physischer Gewalt) gegen Rechtsstaat, Demokratie und Gesundheit. Wie sehr Impfverweigerung und politische Einstellung zusammenhängen, zeigt eine Forsa-Umfrage aus dem November. Laut ihr wählten bei der letzten Bundestagswahl die Hälfte der ungeimpften Wähler*innen die AfD. Weitere 15 Prozent wählten die verschwörungsideologische Kleinstpartei „Die Basis“, welche ingesamt nur 1,4 Prozent der Stimmen erhielt.
Ja, diese Menschen sind in der Unterzahl. Knapp 72 Prozent der Deutschen sind mittlerweile vollständig geimpft, 42,3 Prozent haben sogar bereits ihre Auffrischungsimpfung erhalten. In einer Situation, in der aber jeder einzelne Prozentpunkt in der Impfquote darüber entscheiden kann, ob sich beispielsweise eine neue Mutation verbreiten kann oder Superspreader ihre Virenlast in einer U-Bahn verteilen, ist das aber zu wenig. Im europäischen Vergleich befindet sich die deutsche Impfquote im Mittelfeld. Bedenkt man aber, dass Deutschland eine der besten Gesundheitsinfrastrukturen der Welt besitzt und im europäischen Ranking auf Deutschland ausschließlich osteuropäische Länder folgen, in denen die Bevölkerung der Regierung ohnehin meist kritischer gegenüberseht, ist die deutsche Impfquote ein echtes Disaster.
Also doch eine Impfpflicht? Aus medizinischer Sicht ist die Situation relativ eindeutig: Mehr Geimpfte bedeuten eine Entlastung für die Krankenhäuser und einen Rückgang der pandemischen Lage. Also ja. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn eine durchgeimpfte Gesellschaft aus sich heraus und ohne staatlichen Druck hätte entstehen können. Ist sie aber nicht. Andere europäische Länder bereiten eine Impfpflicht längst vor. Während Merkel im Juli eine Pflicht zur Impfung pauschal ausschloss, stellte Präsident Emmanuel Macron in Paris bereits die Weichen für einen verpflichtenden Pieks. Auch Österreich führte im Dezember eine allgemeine Corona-Impfpflicht ein. In Deutschland wird sie nun heiß diskutiert. Fest steht aber bereits jetzt: Mit ihrem Versprechen, eine Impfpflicht kategorisch auzuschließen, hat die Bundesregierung wichtiges Vertrauen verspielt. Ja, statt Angela Merkel sitzt jetzt Olaf Scholz im Kanzleramt. Mitglied der Regierung war Scholz aber auch schon im Juli, als Vizekanzler düfte er an der Grundsatzentscheidung beteiligt gewesen sein. Sie nun revidieren zu müssen, wäre peinlich.
Deshalb scheint die deutsche Regierung eine Art Impfpflicht durch die Hintertür umsetzen zu wollen. Immer weitere Einschränkungen für Ungeimpfte im öffentlichen Leben oder sogar am Arbeitsplatz sollen Impfunwillige an die Nadel treiben. Diese Maßnahmen sind natürlich völlig gerechtfertigt, um die Gesellschaft zu schützen, bergen aber auch das Risiko, als verdeckter Impfzwang interpretiert zu werden, was die Haltung von Impfgegnern weiter radikalisieren könnte.
Stattdessen sollte die Bundesregierung jetzt auf Transparenz setzen. Kanzler Scholz muss sich für die Fehlentscheidung im Sommer entschuldigen, eine Impfpflicht demokratisch und offen im Bundestag und in der Gesellschaft diskutiert werden. Rechtlich wäre eine Impfpflicht nicht einmal eine Besonderheit. Bis 1983 herrschte in Deutschland eine allgemeine Pocken-Impfpflicht. Sie wurde aufgehoben, nachdem die WHO die Pocken weltweit für ausgerottet erklärte.