Warum die Redensart „Blut ist dicker als Wasser“ Quatsch ist

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Ein Reportinterview über eine Auslandsadoption und das moderne Verständnis von Familie.

Dass alles so ist, wie es ist, ist selbstverständlich und ein großes Wunder zugleich. Egal, worum es geht. Diesen einen besonderen Menschen getroffen zu haben, in genau dieser Stadt geboren zu sein oder auch nur Kakao lieber zu mögen als Kaffee. Manche greifen auf den Glauben ans Schicksal zurück, um sich solche Zustände zu erklären, andere nennen sie einfach Zufall. 

Nina ist 24, lebt und arbeitet in Köln. Sie hat einen Bruder, ist gern kreativ und begeistert sich für spannende Gespräche mit aufgeschlossenen Menschen. Tatsachen, die so sind wie sie sind und auch ganz anders hätten sein können. In Ninas Fall vielleicht noch ein bisschen mehr als bei anderen Menschen. Denn Nina ist als Baby adoptiert worden.

Im Jahr 2020 wurden in Deutschland insgesamt 3.774 Menschen adoptiert. Die Zahl ist in den Vorjahren immer weiter gesunken. Im Jahr 1998 war Nina nämlich eine von insgesamt 7.119 Menschen, die in Deutschland durch ein Adoptionsverfahren in eine Familie aufgenommen wurden. Adoptionen aus dem Ausland sind in Deutschland noch seltener als innerhalb der Landesgrenzen. Auf die deutschen Bundesländer verteilen sich zwölf Landesjugendämter. Dort wird sich um Adoptionen innerhalb Deutschlands und aus dem Ausland gekümmert. Einige Landesjugendämter haben dafür eine gemeinsame Zentrale Adoptionsstelle gegründet. Diese ist für die Vermittlung und Kommunikation zwischen Eltern und Kindern zuständig, prüft die Lebensumstände der Eltern und organisiert das Kennenlernen. Eine Adoption ins Ausland, also zum Beispiel nach Deutschland, ist aber nicht in allen Staaten erlaubt oder erwünscht. In einigen Rechtsordnungen sind derartige Verfahren nicht vorgesehen und in anderen Ländern wird von staatlicher Seite vieles versucht, betreffenden Kindern in ihrer Heimat zu helfen, obwohl eine Adoption ins Ausland möglich wäre.

Ein Land, das Adoptionen nach Deutschland erlaubt, ist z.B. Indien. Dort wurden Nina und ihr älterer Bruder geboren. Die beiden sind biologisch nicht miteinander verwandt, wurden aber in demselben Kinderheim abgegeben und von dort aus adoptiert. Ninas Vater war zuvor beruflich schon einige Male in Indien gewesen. Bis es aber überhaupt zur Adoption kam, hatten Ninas Eltern einen langen Weg zurückgelegt und eine lange Zeit gewartet. 

Bei Ninas Bruder, dem ersten Kind der beiden, waren es ganze dreieinhalb Jahre. Deshalb hier nur eine Kurzfassung aller Schwierigkeiten und bürokratischen Hürden: Zuerst war eine Adoption aus einem anderen Kinderheim geplant. Aufgrund kommunikativer Schwierigkeiten stellte sich aber erst vor Ort heraus, dass eine Auslandsadoption dort nicht möglich war. Durch ihren Anwalt stießen Ninas Eltern nach langer Suche dann auf eine Ärztin namens Dr. Bathija, die sich in Indien um Schwangere kümmerte, die ihre Kinder nicht bekommen wollten oder sie nicht großziehen konnten.

Dr. Bathija leitete neben ihrer Tätigkeit als Ärztin außerdem das Kinderheim, in dem Ninas Bruder abgegeben worden war. Nach Jahren des Papierstaus war es dann so weit: Ninas Bruder kam nach Hause. Ninas Eltern beschreiben den langen Prozess noch heute als eine starke emotionale Belastung.

Und dann meldete sich Dr. Bathija erneut bei Ninas Eltern. Sie erzählte ihnen von einer Schwangeren, die ihr Kind anonym gebären wollte. Diesmal war es ein Mädchen: Nina. Das Verfahren dauerte jetzt nicht mehr so lange. Ein Jahr. Kurz nach ihrem ersten Geburtstag reiste Nina also nach Deutschland. Nach Hause.

Nina und ihr Bruder haben fest vor, einmal ihr Geburtsland zu besuchen. Das haben sie nämlich noch nie getan. Das soll aber keine Suche nach ihren leiblichen Eltern werden.  Sondern einfach aus Interesse. Den eigenen Wurzeln auf den Grund gehen.

Manchmal stellt Nina sich vor, wie es wäre, nach Indien zu reisen. Sie glaubt, gerade durch die Tatsache als Frau eine hohe Bildung erfahren zu haben, dort viel bewirken zu können. Aber diesen Gedanken verwirft sie meistens schnell. Sie kennt Sprache und Kultur nicht und käme sich fremd vor. Ihr zu Hause ist Deutschland. Die Umstände ihrer Geburt ändern für Nina nichts daran.

Dass Nina in Indien geboren ist, kommt ihr surreal vor, sagt sie. Man stelle sich vor, man selbst (vorausgesetzt man ist nicht aus dem Ausland adoptiert worden) bekäme gesagt, in einem anderen Land geboren worden zu sein. So wenig wie man sich dies wohl vorstellen könne, könne sie es sich selbst ausmalen. Eben weil sie bei ihrer Adoption so jung gewesen ist und sich der indischen Kultur nicht zugehörig fühle.

Manchmal, sagt Nina, fände sie es aber auch schade, so gar keinen Bezug zu Indien zu haben. Gerade ihre Mutter hätte sich das sehr für sie und ihren Bruder gewünscht. „Meine Mutter hat uns vor jede Indien-Doku, die im Fernsehen lief, gezerrt und gesagt: Guckt euch das mal an, da kommt ihr her! Aber das war einfach uninteressant für uns.“ Ihre Eltern waren schon immer ihre Eltern und Deutschland schon immer ihr zu Hause. Nur ihre Hautfarbe erinnere sie manchmal an ihre Herkunft.

Nina sieht ihren Eltern nicht ähnlich. Sie erzählt, dass dies in der Familie nie jemanden gestört habe: „Meine Mama ist schon auch sehr stolz auf uns. Und wenn wir zusammen unterwegs sind, kommt es oft vor, dass sie sagt: Und das ist übrigens meine Tochter, das sieht man zwar nicht sofort, aber das ist so!“

Auch ihren Kindern gegenüber sind Ninas Eltern sehr transparent mit der Adoption umgegangen. Dass sie anders aussieht als ihre Eltern, war Nina deshalb auch als Kind schon egal. Dahinter vermutet sie aber auch ein bisschen kindlichen Leichtglauben. Im positiven Sinne: „Hautfarbe ist egal, man fühlt sich einfach zugehörig zu seinen Menschen.“ Und: „Kinder machen da einfach keinen Unterschied.“

Nina ist in einem kleinen Ort aufgewachsen. Ihre Geschichte kannte dort schnell jeder. Das war aber auch gut so: Sie und ihr Bruder gehörten von Anfang an dazu. Negative Erfahrungen machte Nina erst in der Schulzeit. Ihr Freundeskreis versuchte, sie davor zu schützen. Wenn sie sich selbst nicht traute ihren Eltern von rassistischen Kommentaren zu erzählen, taten dies ihre Freund:innen für sie.

Den transparenten Umgang mit der Adoption durch ihre Eltern findet Nina richtig und hält dies für den bestmöglichen Weg. Erst spät zu erfahren adoptiert worden zu sein würde ein Urvertrauen zerstören und der betreffenden Person einen wichtigen Teil der eigenen Identitätsbildung vorenthalten. 

Ihre Adoption nennt Nina einen „Lottogewinn“.  Dieses Glück stellt für sie eine besondere Motivation dar, etwas sinnstiftendes in ihrem Leben zu tun. Natürlich könne es jede:r auch viel schlechter haben. Aber speziell ihr Weg war ja eigentlich bereits vorgeschrieben, sagt sie.

„Familie ist eigentlich nur etwas Emotionales“, meint Nina zum Abschluss. Und eben nichts, was mit phänotypischen Merkmalen zu tun habe. Das ist Familie außerdem für Nina: „Ein Zusammenschluss von Menschen, egal ob man biologisch mit diesen Menschen verwandt ist oder nicht. Ich kenne auch viele Freunde von mir, die sagen, dass Freunde für sie ihre Familie sind.“ Nämlich: „Ein Safe-Place mit Menschen, die einem immer etwas Gutes wollen“.

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