Kommentar
Auf sozialen Medien wächst die Anzahl der Beiträge mit Hashtags wie #goodvibesonly, #staypositive oder #positivevibes stetig. Aktuell haben die ersten beiden Hashtags jeweils über 11 Mio. Beiträge, letzterer sogar über 77 Mio. Beiträge auf Instagram. Neben Millionen von lächelnden und gestellten (Selbst-)Portaits finden sich unzählige Motivationsposts und vermeintliche Lebensweisheiten. Sonnige Himmelbilder oder atemberaubende Landschaften bieten eine positiv geladene Hintergundatmosphäre. Einige Lebensweißheiten sind aber auch ganz minimalistisch schwarz auf weiß oder gar weiß auf schwarz geschrieben. ,,Sometimes you win, sometimes you learn.“ ,,We don’t lack talent, we lack discipline.“ Oder ,,Until you have a clear purpose that makes you wake up excited, keep looking.“ 2 Sekunden im grundlosen Meer der Positivity-only-Hashtags und man ist überflutet vom Druck zur surrealen Selbstoptimierung.
Auch Bilder a la Tumblr der 2010er dürfen beim #staypositive nicht fehlen: Eine Person zum Beispiel, die einsam auf einen dunklen Sternhimmel zuläuft. Passend zum Szenario wurde der noch weitaus positivere Schriftzug ,,Sometimes, it feels better not to talk. At all. About anything. To anyone.“ ausgewählt.
Wenn ihr jetzt nicht gerade angefangen habt zu lächeln, dann liegt das definitiv an eurem Karma, dass ihr die posiven Vibes nicht empfangen konntet. Denn ,,Life will give you whatever experience is most helpful for the evolution of your consciousness. How do you know this is the experience you need? Because this is the experience you are having at the moment.“
Wer von euch jetzt noch nickend vorm Bildschirm sitzt, hat den Test bestanden.
Congrats, du bist positively toxic. Und das nicht nur dir selber – , sondern wahrscheinlich auch anderen gegenüber.
Toxic Positivity und seine Folgen
Das AOK Gesundheitsmagazin schreibt auf deren Website, dass man als Konsument*in eben solcher Beiträge (auch wenn es unterbewusst geschieht) irgendwann nicht mehr genügend reale Vergleiche ziehen kann. Das kann dazu führen, dass wir uns selber dafür schuldig fühlen, nicht ständig und durchgängig glücklich zu sein. Der falsch gepflanzte Gedanke, dass alles Schlechte einen Grund hat und du das schaffst, was du willst, wenn du nur hart genug an dir arbeitest, kann verherende Folgen haben. In einem Interview mit dem fit!-Gesundheitsmagazin erklärt Psychologin Doris Röschmann, dass Toxic Positivity zu einem Zwang werden kann. Dieser Zwang löst so eine unheimliche Enttäuschung bei „nicht-positiven“ Gefühlen wie Trauer oder Wut in einem aus, dass man beginnt diese Gefühle auszublenden oder aktiv zu umgehen. Aber genau das Fühlen von Wut, Angst oder Enttäuschung ist es, was jeder Mensch braucht, um Geschehnisse verarbeiten zu können und wirklich wachsen zu können.
Ablenkung von eigentlichen Problemen
Genau wie der CO2-Fußabdruck, der von einem Erdölkonzern entworfen wurde, dient auch Toxic Positivity dazu, von eigentlichen Ursachen und Problemen abzulenken. Kein Mensch kann ständig glücklich sein. Kein Mensch kann alles erreichen, wenn die Motivation stimmt. Besonders nicht die Menschen, die durch das Patriachat benachteiligt werden. Also Menschen, die Teil marginalisierter und/oder finanziell-schwacher Bevölkerungsgruppen sind und/oder Menschen, die psychisch oder körperlich (chronisch) krank sind. Es wird nicht alles gut, wenn wir fest daran glauben, denn Diskriminierung und Ungleichheit sind nicht bekämpft, wenn wir fest daran glauben. Karma „bestraft“ nicht die Menschen, die uns Unrecht angetan haben. Dafür können ausschließlich wir alleine sorgen, wenn wir uns für unser Recht einsetzen können und unser Recht geschützt wird.
Diskriminierung, Retraumatisierung und Depressionen
Nicht nur wäre es diskriminierend, einem Opfer von Rassismus oder sexualler Gewalt zu sagen, dass der Übergriff irgendwo einen höheren Grund hätte und etwas Positives in Zukunft bringen wird, da das Opfer daraus lernen könne. Auch können Personen, die ihre Traumata anderen mitteilen, durch Toxic Positivity erneut traumatisiert werden. Durch eine Devalidierung ihrer Gefühle und Nicht-Anerkennung ihrer Traumata können Personen in eine negativ-Spirale des Bagatellisieren ihrer Probleme und Schuldgefühle rutschen und gar Depressionen zur Folge entwickeln.
Toxic Positivity ist nicht nur ein Internet-Phänomen
In allen Bereichen unseres Lebens können wir auf Toxic Positivity stoßen. Die meisten Menschen sind bereits in unserer Kindheit mit Toxic Positivity konfrontiert wurden. Bestimmt nicht wenige auf (re-)traumatisierende Art und Weise. Deshalb noch einmal ein paar Phrasen die wirklich positiv sind:
Das was dir passiert ist, hast du nicht verdient.
Es ist wichtig und richtig, dass du traurig sein kannst.
Du kannst nicht alle deine Probleme alleine lösen, denn du hast sie nicht erschaffen.
Es ist ok, wenn es dir nicht gut geht.
Du hast Liebe verdient, wenn es dir nicht gut geht.
P.S. : Wenn du merkst, dass du keinen Zugriff zu deinen Gefühlen hast und Emotionen wie Trauer oder Wut garnicht mehr zulassen kannst, dann sprich das am Besten bei einer Person an, die dir professionell helfen kann.
Das könnte z.B. die PIA (Psychatrische Institutsambulanz) sein, die es in jeder größeren Stadt und verteilt in ganz Deutschland gibt. Jede Person kann hier ambulant therapeutisch beraten werden.