Keine Angst vor ADHS

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Ein Report-Interview aus der Betroffenen-Perspektive.

Lukas ist kein Experte was ADHS und ADS angeht. Aber er weiß, wie es sich anfühlt, entsprechende Symptome zu erleben. Der 25-Jährige lebt seit knapp drei Jahren mit der Diagnose ADHS und arbeitet als Volontär bei einem großen Lokalzeitungsverlag. 

Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. (Aus dem Englischen stößt man auch auf die Abkürzungen ADHD oder ADD.) Der Unterschied zwischen ADS und ADHS besteht in den Hyperaktivitätssymptomen, die bei letzterer Variante auftreten. Die Betroffenen können neben ADS-Symptomen wie Sensibilität und Verträumtheit u.a. Impulsivität, Ungeduld und eine niedrige Frustrationsgrenze erleben. Viele Symptome (z.B. schlechte Feinmotorik, eine geringe Konzentrationsfähigkeit oder eine mögliche emotionale Instabilität) können in beiden Fällen auftreten.

Lukas meint, ADHS und ADS voneinander abzugrenzen sei durch die vielen Überschneidungen eigentlich gar nicht möglich. Es gäbe nur unterschiedliche Ausprägungen. „Manche sind vergesslicher, andere hyperaktiver.“ Er selbst nennt seine Krankheit ADHS, fühlt sich aber eher der „ADS-Gruppe“ zugehörig. Denn seine Hyperaktivität äußert sich nicht nach außen, sondern zeigt sich in Form einer inneren Unruhe. Die „klischeemäßigen Zappelphilipp-Probleme“ habe er nicht mehr. Als Kind war das anders. Dazu gleich mehr.

Lukas‘ heutige Probleme liegen in den Bereichen Konzentration, Fokus, und Struktur. Es fällt ihm schwer, ordentlich zu sein und seinen Tag zu organisieren. Für ihn ist das die größte Belastung, die seine Krankheit mit sich bringt. Manchmal vergleicht er sich in diesen Punkten mit anderen: „Wo man sich dann auch oft anders vorkommt. Weil man sich denkt, warum fällt das anderen Leuten um mich herum so leicht und für mich ist das die größte Aufgabe.“

Sein ADHS eine Krankheit zu nennen, findet Lukas sowohl richtig als auch falsch. „Es ist eine Krankheit in dem Sinne, dass eine Störung vorliegt.“ Aber der Krankheitsbegriff selbst sei gesellschaftlich negativ konnotiert. Das findet Lukas problematisch. Denn sein ADHS sei nicht allein negativ. Lukas sieht darin auch viele Vorteile. 

„Es ist nicht schlechtes, diese Krankheit zu haben. Ich habe nicht einmal nach der Diagnose gedacht, es ist scheiße, dass ich ADS oder ADHS habe, sondern habe gedacht, okay, es hat Vor- und Nachteile. Ich bin aber eigentlich ganz froh, dass es so ist, vor allem froh, es jetzt erkannt zu haben und punktuell genau daran arbeiten zu können, wo ich Defizite habe und wie ich die Vorteile nutzen kann.“ Für die Talente und Vorzüge, die die Krankheit mit sich bringt, ist Lukas, auch rückblickend auf sein Leben, sehr dankbar. Er hätte nie ändern wollen, wie er ist. Auch hierzu gleich mehr.

Doch erst einmal ein Blick zurück. In seine Grundschulzeit. Damals bekam Lukas im Sozialen oft schlechte Noten. Damit konnte er nichts anfangen, sondern fühlte sich lediglich unfair behandelt und in Schubladen gesteckt. „Was ich bis heute voll ungerecht finde, denn ich war nie asozial. Ich war ein richtig sozialer Schüler, ich habe aber ab und zu den Unterricht gestört.“ Sich auf diese Weise ungerecht behandelt zu fühlen habe bei Lukas lediglich Trotz gegenüber Autoritäten ausgelöst.

Aus einer Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) aus dem Jahr 2021 geht übrigens hervor, dass Kopfnoten sowohl für den Bildungserfolg als auch für den späteren Berufseinstieg bedeutungslos sind.  Dies deckt sich mit der Lukas‘ Meinung. Hier geht es zu einem Artikel der Gewerkschaf Erziehung und Wissenschaft zu diesem Thema.

Lukas habe nie erlebt, wie ein Lehrer oder eine Lehrerin Kopfnoten adäquat anwandte. Brave Schüler:innen bekamen die Note A oder B und alle anderen eine schlechtere Note. „Es gab nur gut und schlecht, eigentlich. Gut oder böse, so zu sagen.“ Als Kind hat Lukas nicht verstanden, weshalb er im Laufe seiner Schulzeit mal zu den „Guten“ und mal zu den „Bösen“ gehörte.

Retrospektiv, sagt Lukas, habe man sein ADHS schon von der ersten Klasse an bemerken können. Zum Beispiel anhand seines Verhaltens im Unterricht. Zehn Minuten vor der Pause war die Aufstellung auf dem Fußballplatz des Schulhofs einfach wichtiger als der Stoff. Eine Lehrerin hatte sogar das Gefühl, Lukas sei von den Unterrichtsinhalten gelangweilt gewesen. Darin erkennt Lukas rückblickend seine Krankheit. In Noten ausgedrückt bedeutete das für ihn ein D im Bereich Sozialverhalten.

Auf der weiterführenden Schule hat es Lukas dann irgendwie geschafft seine Klausuren, ohne viel Lernstruktur und Organisation, zu bestehen. Eigentlich lernte er überhaupt nicht außerhalb des Unterrichts. Im Studium fiel ihm das dann auf den Kopf. Er begann ein Jura-Studium in Hannover, verwarf diesen Plan aber nach drei Semestern wieder. Inhaltlich war das Studium zwar das richtige, doch ohne die erforderliche Organisation für Lukas einfach nicht machbar. Danach wechselte er nach Osnabrück, in die öffentliche Verwaltung. Neben Rechtswissenschaften interessiert ihn nämlich auch Politik. Hier bemühte er sich noch einmal mehr, seinen Aufgaben trotz seiner Einschränkungen nachzukommen, doch stand ihm das ADHS erneut im Weg.

Ein Plan C musste her. Gar nicht so einfach, denn Lukas war sich sicher, seine organisatorischen und strukturellen Schwierigkeiten würden ihm auch hier einen Strich durch die Rechnung machen. Nur dass er damals noch gar nicht wusste, dass nicht er selbst, sondern eine Krankheit der Grund für seine Probleme war.

Um diesen zu finden war das Internet seine erste Anlaufstelle. Man kommt nicht umhin zu erwähnen, dass dies mit der richtigen Aufklärung (zum Beispiel im Unterricht oder für die Eltern) nicht nötig gewesen wäre und viel einfacher hätte sein können. Aber weiter im Text: Lukas gab seine Symptome auf Google ein und fand heraus, dass Eigenschaften wie seine Schläfrigkeit am Tag eine Folge von ADHS sein könnten. Wie ein Mittagstief, bloß länger und intensiver. Eigentlich nichts, was er damals mit einer Hyperaktivitätsstörung assoziiert hätte. So lernte er, dass einige seiner Eigenarten eigentlich Symptome einer Krankheit waren.

Obwohl Lukas sich sicher ist, er hätte bereits als Kind diagnostiziert werden können, macht er seinen Eltern keine Vorwürfe, sie hätten damals für ihn aktiv werden sollen. Zu seiner Schulzeit seien so viele Kinder mit ADHS diagnostiziert worden und es seien so viele neue Klischees um die Krankheit aufgekommen, dass seine Eltern davon ausgingen, es könne ja nicht plötzlich jedes auffällige Kind ADHS haben. Deshalb ließen sie Lukas nicht untersuchen. Denn er war erfolgreich in der Schule und trotz seiner Symptome ein soziales und aktives Kind.

Nach seinen Recherchen war Lukas sich sehr sicher, von ADHS betroffen zu sein. Mit Anfang 20 kümmerte er sich dann erstmals um einen Termin bei einem Neurologen. Auf diesen musste er ein halbes Jahr warten. Für ihn war das ein Semester unangenehme Ungewissheit. Ein weiteres Problem, das den Rahmen dieses Artikels leider sprengen würde. 

Beim Neurologen angelangt ging es dann ganz schnell: Erst ein schriftlicher Test, dann eine Messung der Hirnströme. Ein so eindeutiges Ergebnis habe sein Neurologe selten gesehen. Lukas hatte endlich Gewissheit. Im nächsten Schritt wurde ihm Ritalin verschrieben. Der Wirkstoff des Medikaments (Methylphenidat) kann für eine verbesserte Gedächtnisfunktion sorgen und so bei der Konzentration unterstützen oder dem Gehirn dabei helfen, äußere Reize zu filtern, um eine Überstimulation der Sinne zu verhindern.  Das Ritalin setzte er jedoch bald wieder ab.

Außerdem entschied sich Lukas für eine Verhaltenstherapie. Seine Therapeutin spiegelte ihm dabei, wie außergewöhnlich seine Eigeninitiative auf seinem Diagnoseweg gewesen sei. Lukas erklärt das so: Festzustellen, farbenblind zu sein, sei nahezu unmöglich, da es schwer sei herauszufinden, wie anders Sehende Farben wahrnehmen. Ebenso sei es für Lukas schwer nachzuvollziehen (gewesen), wie Umwelten auf neurotypische Menschen anders wirken als auf ihn.

Mit seiner neuen Erkenntnis ist Lukas glücklich: „Seitdem sehe ich eigentlich jeden Tag als Gewinn.“ Und es fiel ihm nicht schwer seinem Umfeld davon zu berichten. Viele, wie zum Beispiel seine damalige Freundin und seine Familie, hatten ihn von Anfang an auf dem Weg zur Diagnose begleitet und freuten sich nun mit ihm darüber. Auch seine Freund:innen erfuhren innerhalb weniger Tage davon. Lukas fühlte sich bestärkt durch die Diagnose, versteht aber, wenn andere anders damit umgehen. „Das liegt daran, dass die Gesellschaft eben noch nicht so weit ist, im Endeffekt.“

Natürlich stellte sich Lukas auch in seinem neuen und aktuellen Job, dem Volontariat in einem Lokalzeitungsverlag, erneut die Frage, wie seine Symptome sich auswirken würden. Zumal er ja jetzt einen Namen dafür hatte. Zu Beginn des Volontariats wusste noch niemand in der Redaktion von seinem ADHS, er hatte es in seiner Bewerbung nicht erwähnt. Doch irgendwann fiel er damit auf. Bei einer Tätigkeit, die hohe Konzentration und Aufmerksamkeit erforderte, machte er immer wieder dieselben Fehler – auch nachdem er darauf hingewiesen wurde. Lukas schreibt dies ganz eindeutig dem ADHS zu. Die Anweisung „Konzentrier‘ dich doch mal mehr!“ zeigte einfach keine Wirkung. Er wurde zum Gespräch mit einem Vorgesetzten gebeten. Und da sprach Lukas die Krankheit dann endlich an.

Die Reaktion der Redaktion rührte ihn beinahe zu Tränen: Der Chefredakteur wollte mit ihm sprechen und lud ein weiteres Redaktionsmitglied dazu ein – ebenfalls mit der Diagnose ADHS, um Lukas zu zeigen, wie ein Arbeitsalltag mit der Krankheit funktionieren kann. Lukas bekam die Gelegenheit zum Austausch und stieß außerdem auf viel Verständnis und Unterstützung. Denn trotz seiner Fehler war Lukas bereits mehrmals positiv aufgefallen. Begabt und engagiert – bloß brauchte es die richtige Förderung. Ein Paradebeispiel für den richtigen Umgang mit ADHS am Arbeitsplatz.

In Absprache mit seinem Chef begann Lukas dann erneut Ritalin einzunehmen und fand so endlich einen guten Umgang mit dem Medikament. Die Unaufmerksamkeiten bei der Arbeit gingen zurück und gemeinsam mit dem Wissen seiner Kolleg:innen über seine Diagnose kann sich Lukas heute in seinem Beruf entfalten. Er weiß jedoch, dass diese Situation nicht selbstverständlich ist und sein aktuelles Arbeitsumfeld ein absoluter Glücksgriff für ihn war. Sein Appell: Aufklärung. Damit mehr erwachsene ADHSler:innen arbeiten und leben können wie er.

Auch nach Redaktionsschluss begegnet Lukas Situationen, die er als typisch für ADHS-Betroffene beschreibt. Zum Beispiel eine verstärkte Sorge davor, andere Menschen zu enttäuschen. Egal ob privat oder beruflich. Und egal, wie banal die Situationen erscheinen mögen. Da reicht es für Lukas schon ein fremdes Feuerzeug zu verlieren, um sich richtig schlecht zu fühlen. Auch sein Kurzzeitgedächtnis mach ihm Probleme. Zum Beispiel wenn es darum geht wichtige Gegenstände für unterwegs einzupacken. Die muss sich Lukas manchmal so zurechtlegen, dass er darüber stolpert, sobald er das Haus verlässt. Wortwörtlich. Sonst bleiben das Ladekabel, die Zahnbürste oder die Sonnenbrille zu Hause.

Das klingt jetzt recht negativ, doch sieht Lukas in seinem ADHS auch Vorteile. Zum Beispiel durch seinen erweiterten peripheren Blick. Außerdem ist er ein kreativer Mensch und kann gut auch mal über den Tellerrand hinwegsehen. Er beschreibt sich als lösungsorientiert und verantwortungsvoll und es fällt ihm leicht auf Menschen zuzugehen. Natürlich können diese Eigenschaften auch bei neurotypischen Menschen sehr ausgeprägt sein. Doch ist Lukas sich sicher, dass das ADHS in seinem Fall mitverantwortlich für die Charakterzüge ist. Was besonders praktisch ist: Lukas kann X-Box spielen, Basketball schauen und einen Podcast hören. Alles gleichzeitig. Das soll mal jemand nachmachen.

Um diese Skills nutzen zu können braucht es aber die richtige Förderung und ein allgemeines Wissen über ADHS. Laut Lukas kann das nicht immer vorausgesetzt werden. Und so passiert es, dass er sich oft ungerecht behandelt fühlt. „Ungerechtigkeit verspüre ich eigentlich schon mein ganzes Leben lang.“ Diese einfach so stehen zu lassen ist hart für Lukas. Jedoch fiele es ihm leichter, je älter er werde.

Ein Beispiel: Nach einem Umzug tat Lukas sich schwer damit, sich allein um seine Einrichtung zu kümmern: Kartons auspacken, aufräumen, putzen. Das ging zunächst nicht, er musste sich erstmal vom eigentlichen Umzug erholen. Alles weitere empfand er als Überforderung. Trotzdem lud er Freunde ein, um ihnen die neue Wohnung zu zeigen. Einer seiner Freunde kommentierte die Unordnung und löste damit Unwohlsein bei Lukas aus. Die Freude über die neue Wohnung war kurzzeitig verflogen und er fühlte sich schlecht, noch nicht alles organisiert zu haben. Sein Freund meinte dies nicht böse, Lukas fühlte sich jedoch ungerecht und unsensibel behandelt. Eben weil der Freund in diesem Moment übersehen hatte, dass die Ursache für die Unordnung bei Lukas ADHS lag. Doch Lukas schluckte das Gefühl herunter. Das hätte er vor einigen Jahren vermutlich noch nicht gekonnt. Darauf ist er stolz.

Solche Entwicklungen bei ADHSler:innen mit fortschreitendem Alter sind übrigens typisch. (Mehr Infos gibt es im Spotlight-Beitrag „AD(H)S bei Erwachsenen“ ) So verläuft sich meistens auch die Hyperaktivität der Betroffenen. Deshalb stört sich Lukas sehr an dem „Zappelphilipp“-Klischee. Die Unruhe verlagere sich mit dem Alter nach innen und sei von außen immer schlechter zu sehen, was viel Leid bedeuten könne. Wieder betont Lukas seinen Wunsch nach mehr Aufklärung, unter anderem, um dieses Leid zu schmälern. Bildung und Forschung seien der Schlüssel. Gerade im Bereich der Erwachsenen. Da sieht Lukas noch deutliche Defizite. „Um es jetzt mal ganz deutlich zu sagen: ADHS ist keine Kinderkrankheit.“, sagt er dazu. Ganz entgegen vieler Vorurteile.

„Weil ich es eben nicht als negativ empfinde, es zu haben, finde ich den Umgang damit eben so wichtig. Den Umgang von außen. […] Das ist das wichtige. Dass die Leute da geschult werden und sensibler damit umgehen.“ Lukas wünscht es sich nicht, nicht von ADHS betroffen zu sein. Stattdessen habe er das Gefühl, Werkzeuge in die Hand gelegt bekommen zu haben. Doch hindere ihn die Gesellschaft oft daran, diese richtig zu benutzen. Lukas betont, dass sie trotz ihrer Bezeichnung als Krankheit nichts sei, wovor man Angst zu haben brauche. Weder im eigenen Fall noch als Elternteil. Gewissheit sei immer besser als Verdrängung. Besser eine psychologische Beratung zu viel, als eine zu wenig.

Deshalb hier einige Anlaufstellen und Literaturlisten für Betroffene und Angehörige:

ADHS Deutschland e.V.: https://adhs-deutschland.de/Home.aspx

Infoportal ADHS: https://www.adhs.info

Literaturliste für Eltern: https://www.adhs.info/fuer-eltern-und-angehoerige/ratgeber-fuer-angehoerige/literatur-fuer-eltern/

Literaturliste für Partner:innen: https://www.adhs.info/fuer-eltern-und-angehoerige/ratgeber-fuer-angehoerige/literatur-fuer-partner/

Symptomliste für Erwachsene: http://www.adhs-deutschland.de/Home/ADHS/Erwachsene/ADHS-im-Erwachsenenalter.aspx

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