Wo Mäuse für Antidepressiva sterben – Warum brauchen wir Tierversuche in der Psychiatrieforschung?

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Kein Tierleiden mehr für Kosmetika! Seit einigen Jahren ist das Durchführen von Tierversuchen für die Entwicklung von Kosmetikprodukten in Deutschland und der EU verboten. Das heißt jedoch nicht, dass die Anzahl der Tierversuche sinkt. Im Gegenteil. Doch wie kommt es dazu? Die Ursache hinter der stetig steigenden Anzahl an Tierversuchen ist unter anderem die Grundlagenforschung der Medizin und Psychiatrie. Denn um bestimmte Wirkungszusammenhänge nachzuweisen, sind Methoden notwendig, die am Menschen nicht erlaubt sind. Dennoch müssen neue Medikamente geprüft, Therapieverfahren getestet und Impfstoffe erprobt werden.

Die Ratte muss her.

Die Grundidee hinter Tierexperimenten nennt sich „Evolutionäre Kontinuität“. Ein kompliziertes Wort für einen eigentlich einfachen Sachverhalt. Im Laufe der Evolution hat sich das Gehirn des Menschen über die verschiedenen Evolutionsstufen verändert und weitergebildet. Anders als unsere Vorfahren haben wir modernen Menschen beispielsweise einen Neokortex, der stark ausdifferenziert ist und die typische „schrumpelige“ Oberfläche aufweist. Andere Bereiche des Gehirns, wie z.B. das Mittelhirn oder der Hirnstamm haben sich allerdings nicht verändert. Allgemein kann man also sagen, je tiefer die Gehirnstruktur, desto früher war sie in der Evolution vorhanden. Man geht daher davon aus, dass für einfache Prozesse, wie Lust und Furcht, sogenannte phylogenetische Kontinuität gegeben ist – Menschen sich also in dieser Hinsicht nicht von anderen Säugetieren unterscheiden.

Das Problem dabei? Gerade für psychiatrische Erkrankungen spielt der Präfrontale Kortex, kurz PFC, eine wichtige Rolle. Tiere, die häufig in Tierexperimenten eingesetzt werden, wie Beispielsweise Ratten, haben allerdings keinen so ausgereiften PFC wie wir Menschen. Gilt die phylogenetische Kontinuität also auch für psychiatrische Erkrankungen oder sind diese für den Menschen einzigartig?

Wenn wir Furchtextinktion verstehen, können wir Menschen mit Angststörungen besser helfen

Genau genommen wissen wir das nicht. Was wir aber wissen ist, dass Furcht in Tieren und im Menschen gleich erlernt wird. Die Furchtkonditionierung ist eine der am besten erforschten neuropsychologischen Prozesse. Die Forschung, auch mit Tieren, hat sehr viel zur erfolgreichen Behandlung von Angststörungen beigetragen. In Experimenten mit Ratten konnte nachgewiesen werden, dass die Extinktion, also das Löschen der Angstreaktion auf einen bestimmten Reiz, nichts mit Gewöhnung oder „Vergessen“ zu tun hat, wie lange Zeit vermutet wurde. Stattdessen lernt das Gehirn aktiv, nicht mehr mit der Angstreaktion auf die Reize zu reagieren. Mit dieser Erkenntnis konnten unter anderem Expositionstherapien neu gestaltet werden. Und nicht nur Verhaltensähnlichkeiten konnten mit Tierexperimenten bewiesen werden. Schaut man sich die aktivierten Hirnstukturen bei Ratten und Menschen während der Angstreaktion an, so können auch hier neurobiologische Überlappungen festgestellt werden.

Neben Verhaltensexperimenten gibt es noch eine Reihe weiterer tierexperimenteller Methoden in der Psychiatrieforschung. Dazu zählen zum Beispiel Läsionsmodelle, bei der es zu einer elektrischen oder neurochemischen Zerstörung eng umschriebener Hirnregionen kommt. Eine andere Möglichkeit sind Stimulationsmodelle, in denen eine elektrische Reizung einzelner Regionen mit Tiefenelektroden durchgeführt wird. Diese Experimente haben dafür gesorgt, dass heute Menschen mit Parkinson ein einigermaßen normales Leben führen können – dank der Technik der Tiefen Hirnstimulation.

Verbot von Tötung überzähliger Tiere aus der Versuchstierzucht

Eine weitere Art der Tierexperimente sind genetische Modelle, bei der Tiere mit bestimmten Merkmalsausprägungen oder selektiven Genveränderungen gezüchtet werden. Hierbei ergibt sich jedoch ein Problem, bei dem auch große Vertreter*innen der Tierexperimente Bauchschmerzen bekommen. Bei der Züchtung einer bestimmten Merkmalsausprägung entstehen nämlich viele Tiere, welche ebendiese Ausprägung gar nicht vorweisen. Dementsprechend sind diese Tiere „unbrauchbar“. Bis vor wenigen Jahren wurden diese Tiere einfach per Knopfdruck getötet. Ein Gericht hat im Jahr 2020 hat allerdings entschieden, dass das Töten dieser „überzähligen“ Tiere nicht mehr zulässig ist.

Wie werden Versuchstiere also per Gesetz geschützt?

Ein Tierversuch im Tierschutzgesetz §7 folgendermaßen definiert: Tierversuche im Sinne dieses Gesetzes sind Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken:

  • an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere oder
  • am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können

Sie sind erlaubt, wenn sie unerlässlich sind (u.a.):

  • damit Krankheiten/Leiden von Menschen/Tieren verstanden und gelindert werden können
  • damit Umweltgefahren erkannt werden können
  • für Grundlagenforschung

Der wissenschaftliche Kenntnisstand muss also immer genau berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob ein Tierversuch wirklich unerlässlich ist. Wer einen Tierversuch durchführen möchte, muss einige Auflagen erfüllen. Zum einen ist eine Genehmigung durch die zuständige Langesbehörde notwendig. Der zugefügte Schmerz/Leid muss ethisch vertretbar und die zu erwartenden Ergebnisse von hervorragender Bedeutung sein. Leiter*innen müssen fachliche Eignung zur Überwachung der Versuche vorweisen und zusätzlich eine*n Tierschutzbeauftragte*n mit einbeziehen. Weiterhin muss die Unterbringung, Pflege und medizinische Versorgung der Tiere gewährleistet sein.

Tierexperimente unterliegen also einer starken Reglementierung. Oft ist ein „harter“ kausaler Nachweis einer bestimmten Theorie oder Methode nur durch ein Manipulation möglich, die sich beim Menschen verbietet. Die Erforschung ebendieser kausalen Basismechanismen ist allerdings so wichtig, um Ansätze für Prävention und Therapie zu gewinnen. Doch brauchen wir sie wirklich? Ist es gerechtfertigt, dass Ratten Teile des Gehirns entfernt werden, damit wir Menschen mehr über die Wirkmechanismen psychiatrischer Erkrankungen erfahren?

Können wir „Angst“ im Tier überhaupt messen?

Tierversuchsgegner*innen weisen immer wieder darauf hin, dass es mittlerweile viele moderne Techniken gibt, die Tierversuche ersetzen können. Große Hoffnung setzen sie unter anderem in sogenannte Multi-Organ-Chips, also Zellkulturen, die Organe nachbilden. Auch sehen sie die Übertragbarkeit der Ergebnisse vom Tier auf den Menschen kritisch. Gerade bei psychiatrischen Erkrankungen spielen häufig auch Umwelteinflüsse eine Rolle, die in Tierexperimenten überhaupt nicht modelliert werden können. Auch im Falle der viel zitierten Furchtforschung stellt sich die Frage: können wir „Angst“ im Tier überhaupt messen, so wie wir es beim Menschen tun? Für Kliniker*innen ist Angst als der verbale Bericht des Erlebens von Patient*innen definiert. Was wir im Tierexperiment beobachten, ist allerdings die Aktivierung des defensiven Systems bei Bedrohungsreizen. Ist das gleichzusetzen mit pathologischen Ängsten im Menschen?

Am Ende sollte immer gelten, die Anzahl der Tierversuche so klein wie möglich und das Leiden der Tiere so gering wie möglich zu halten. Ob Tierexperimente allgemein vertretbar sind, ist allerdings eine schwierige Frage, bei der Ethik, Philosophie und Wissenschaft aufeinandertreffen und die wohl jede*r für sich selbst beantworten muss.

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