Menschheitsgeschichte umgedacht- ist unsere gesellschaftliche Ordnung wirklich alternativlos?

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Der folgende Artikel bezieht sich auf Ideen aus „The Dawn of Everything“ von David Graeber und David Wengrow.

David Graeber, der wohl bedeutendste Anthropologe unserer Zeit und David Wengrow, führender Archäologe und Historiker publizieren letztes Jahr ein Buch das nicht nur in akademischen Kreisen Wellen schlägt. „The Dawn of Everything“ stellt die etablierte Menschheitsgeschichte wie wir sie uns erzählen auf den Kopf und öffnet gleichzeitig den Blick für eine hoffnungsvolle Zukunft. Sozialkritische Literatur scheint aktuell Hochkonjunktur zu haben, vielleicht gerade deshalb weil sie auf den Durst nach Erkenntnis in Zeiten von Klimawandel und neu aufflammenden politischen Konflikten reagiert. Anders als Yuval Harari (Autor von „Sapiens“), Jared Diamond (Autor von „The World until yesterday“) und co gibt es bei Graeber und Wengrow keine lineare Fortschrittslogik. Trotzdem dreht sich alles um die Frage nach politischer Ordnung. Warum gehen wir eigentlich davon aus, dass unsere Gesellschaft immer fortschrittlicher wird, wie können wir unsere eurozentrische Brille ablegen und vor allem, gab und gibt es Alternativen zu gegenwärtigen Gesellschaftsformen?

Für diese großen und wenig greifbaren Fragen suchen die beiden Autoren auf provokante Weise Antworten. Sie schaffen es auf anschauliche Art, unsere Geschichte, die Geschichte der Menschheit neu zu deuten. Was bedeutet unsere Vergangenheit für heute und morgen? Und ist Kapitalismus der einzige Weg? Vor allem aber zeigen sie uns, warum genau diese Fragen nicht abstrakt sind sondern uns alle angehen und faszinieren können.

Von Rousseau, Hobbes und linearer Fortschrittslogik

In der Schule begegnen uns meist zwei populäre Narrative wenn es um das Entstehen unserer Gesellschaften geht. Diese gehen Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes zurück. Entweder, so heißt es bei Rousseau, ist der Mensch ursprünglicherweise frei und erst die landwirtschaftliche Revolution habe hierarchische Strukturen notwendig gemacht, oder, wenn wir Hobbes glauben wollen, dessen „Leviathan“ bis heute als Gründungswerk moderner politischer Theorie gilt, brauche der Mensch politische Systeme samt ihrer unterdrückerischen Mechanismen um seine von Natur aus niederen Instinkte zu kontrollieren. In anderen Worten, entweder hat unser Fortschritt uns die natürliche Freiheit geraubt, oder der einzige Weg zur Freiheit sind rigide gesellschaftliche Systeme. Dieser Idee nach bauen unsere Gesellschaften auf die kollektive Unterdrückung von unseren niederen Instinkte, die umso notwendiger wird, je mehr Menschen zusammen leben. Aber auch die Idee Rousseaus hält sich bis heute und wird für einen stark vereinfachenden Mythos missbraucht.

Dieser Gründungsmythos beherrschte seither das Denken im Westen, von Hegel über Marx bis Fukuyama. Und er verkauft sich heute in Bestsellern millionenfach: etwa vom amerikanischen Universalgelehrten Jared Diamond und vom israelischen Globalhistoriker Yuval Noah Harari, für die sich die Menschen bei der Erfindung der Landwirtschaft vor 12 000 Jahren in eine Falle locken ließen, weil ihnen das Bauern harte Arbeit und schwere Geburten, Seuchen, Hunger und Herrscher bescherte.

Markus Schär, Neue Bürcher Zeitung

Neben der Kritik an diesen beiden, nicht gerade hoffnungsvollen Perspektiven geht es in „The Dawn of Everything“ im Kern darum, den vorherrschenden linearen Entwicklungsgedanken zu entlarven, beispielsweise diese Idee, dass der Mensch aus einem idyllischen, friedlichen Leben in Jäger- und Sammlergemeinschaften mit der Agrarrevolution der Hierarchie und Unfreiheit verfallen ist.

Die letzten 30.000 Jahre Menschheitsgeschichte, von denen es Aufzeichnungen unserer Gesellschaften gibt, lassen sich eben nicht in einfache Narrative wie dieses verpacken. Dafür ist die Welt zu groß, die Gesellschaften zu unterschiedlich und Entwicklung viel zu komplex.

Es existiert keine einheitliche Entwicklungslogik, kein gerader Weg, der von allen Zivilisationen beschritten wurde bzw. werden muss. Damit ist auch der gegenwärtige Zustand unserer von Ungleichheit geprägten Gesellschaften alles andere als alternativlos.

Eike Gebhardt, Deutschlandfunk

Graeber und Wengrow wollen eine hoffnungsvollere und vielseitigere Geschichte erzählen, eine, die unserer Geschichte stärker gerecht wird.

Irrwege Eurozentrismus, Imperien und Zivilisation

Welche Mythen gilt es nun aber konkret neu zu denken? Eines der vielen Beispiele typischer Irrtümer ist das Ingangsetzen der Aufklärung, dem scheinbar so reflektierten und vernünftigen Zeitalter. Während wir im europäischen Kontext immer wieder auf die „Great Man Theory“ zurück fallen und so beispielsweise Kant als Leitfigur eines ganzen Zeitalters sehen, lassen sich gesellschaftliche Epochen von dieser, also der Gesellschaft aus deutlich besser verstehen. Kein Zeitalter ist durch ein oder zwei große Denker:innen los getreten wurden, ganz im Gegenteil. Die Aufklärung beispielsweise wurde maßgeblich von Ideen und dem Kontakt zu indigenen Gesellschaften Amerikas und Asiens bestimmt.

European intellectuals of that time were just rediscovering Aristotle and the ancient world, and had very little idea what people were thinking and arguing about anywhere else. All this changed, of course, in the late fifteenth century, when Portuguese fleets began rounding Africa and bursting into the Indian Ocean – and especially with the Spanish conquest of the Americas. Suddenly, a few of the more powerful European kingdoms found themselves in control of vast stretches of the globe, and European intellectuals found themselves exposed, not only to the civilizations of China and India but to a whole plethora of previously unimagined social, scientific and political ideas. The ultimate result of this flood of new ideas came to be known as the ‘Enlightenment’.

David Graeber, David Wengrow, „The Dawn of Everything“

Europa als Leitbild des Fortschritts zu beschreiben, macht historisch gesehen schlichtweg keinen Sinn. Außerdem wirft das Beispiel der Aufklärung Licht auf auf ein anderes Problem, unser Verständnis kolonialer Eroberung. Leider ist letztere im kollektiven Verständnis immer noch als eine Ära verankert, in der Europäer:innen in anderen Teilen der Welt auf primitive Gesellschaften gestoßen sind und diesen neben Krieg und Verderben vor allem Fortschritt brachten. Das Gegenteil war der Fall. Dass kultureller Reichtum und intellektuelle Bewegungen maßgeblich durch den Kontakt zu Gesellschaften in anderen Teilen der Welt bestimmt wurden, das ist bisher kein gängiger Konsens.

Durch die Verknüpfung von unterschiedlichen Disziplinen wie Archäologie und Anthropologie sowie mit einem wachen Blick für die Nuancen unserer Geschichte lässt sich viel lernen, aus der Geschichte Teotihuacans in Mexico zum Beispiel. Es gibt Anzeichen dafür, dass 300 Jahre v. Chr. dort bereits 100.00 Menschen als egalitäres Kollektiv lebten, in dem Ressourcen gerecht verteilt wurden und es keine autoritäre Regierungsinstanz gab. An diesem Beispiel, neben dem es in Mesoamerika aber auch über den Kontinent heraus noch weitere gibt, zeigt sich, dass lineare Fortschrittslogik nicht ins Bild passt, das gerechte, idyllische Leben eben nicht nur bei Jäger- und Sammler Gemeinschaften zu finden war und soziale Standards nicht heute ihre Sternstunde haben. Ein Blick auf Mesoamerikas Geschichte öffnet also neue Facetten unserer Vergangenheit in der sich Großprojekt der sozialen Wohlfahrt und einheimischen Formen der Demokratie bis in die Zeit der spanischen Eroberung und darüber hinaus verfolgen lassen, und eben was sie uns gegenwärtiges Zusammenleben lehren können.

Außerdem wird deutlich, dass sogenannte primitive Gemeinschaften, die am Rande moderner Staaten existieren, sind keine „Fenster in die Vergangenheit“, sondern anspruchsvolle kosmopolitische Gesellschaften, die phantasievolle Lösungen für die ewigen Probleme der menschlichen politischen Organisation demonstrieren.

Was heißt das alles konkret für gegenwärtige Gesellschaftsordnungen?

Unsere modernen Probleme der wirtschaftlichen, politischen und Geschlechterungleichheit entstehen nicht aufgrund von etwas, der menschlichen Natur innewohnendem, sondern in einem historischen Moment, in dem persönlicher Reichtum in politische Macht und Zwangsgewalt umgewandelt werden kann. Die formalen Freiheiten, die in modernen Demokratien gewährt werden, sind weitaus eingeschränkter, als die materiellen Freiheiten, die in vorindustriellen, außereuropäischen Gesellschaften weit verbreitet waren und sind. Insofern ist es höchste Zeit, das Narrative linearer Fortschrittsentwicklung über Bord zu werfen und den Blick zu öffnen.

We can see more clearly now what is going on when, for example, a study that is rigorous in every other respect begins from the unexamined assumption that there was some ‘original’ form of human society; that its nature was fundamentally good or evil; that a time before inequality and political awareness existed; that something happened to change all this; that ‘civilization’ and ‘complexity’
always come at the price of human freedoms; that participatory democracy is natural in small groups but cannot possibly scale up to anything like a city or a nation state.

David Graeber, David Wengrow, „The Dawn of Everything“

„The Dawn of Everything“ ist eine absolute Leseempfehlung und ein Plädoyer für die Macht des direkten Handelns jede:r Einzelnen. Ein aufmerksamer Blick in die Vergangenheit kann dabei der Schlüssel zu Morgen sein, denn weder war die Vergangenheit schwarz und weiß, noch wird es die Zukunft sein. Neben statischen Grundsatzdebatten á la Kommunismus versus Kapitalismus lohnt es sich, einen Blick auf vergangene und moderne egalitäre Gesellschaften zu werfen. Was ist der Zweck von all diesem neuen Wissens, wenn nicht die Neugestaltung unserer Vorstellungen davon, wer wir sind und was wir noch werden könnten? „Wenn nicht, mit anderen Worten, um die Bedeutung unserer dritten Grundfreiheit wiederzuentdecken: die Freiheit, neue und andere Formen der sozialen Wirklichkeit zu schaffen?“ (525).

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