83 Jahre Haft ohne Tat – Wir müssen über Abschiebungshaft reden

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Kommentar

Vor einem Monat veranstaltet Refugee Law Clinics an der Universität Hamburg eine öffentliche Veranstaltung um über Abschiebungshaft zu sprechen. Das Format, ein sogenanntes Lab soll irgendwo zwischen fach- und thementag, zwischen „wissen sammeln“ und „wissen schaffen“, zwischen etabliert und nonkonform…einen Raum öffnen um auf jenes Thema aufmerksam zu machen, welches dringend stärker diskutiert werden muss. Leider ist der Hörsaal an diesem Tag ernüchternd leer. Viele scheinen an diesem verhältnismäßig sonnigen Samstag Besseres vor zu haben, und das, obwohl sich der Campus im ersten vollen Präsenzsemester seit Pandemiebeginn sonst endlich wieder belebt zeigt. Trotzdem sind einige Menschen gekommen oder per Zoom zum Fachtag zugeschaltet, um die gekonnte Mischung aus Formaten wie Expert:inneninterviews, Dialog, Panel und Betroffenenbericht zu verfolgen, sich einzubringen und auszutauschen. Als ich nach der Veranstaltung berührt und gedankenversunken nach Hause fahre, bin ich selbst darüber erschrocken, wie wenig ich bis dato über das Thema wusste.

Abschiebungshaft, das bedeutet, dass eine Ausländerbehörde oder die Bundespolizei einem Menschen vor ihrer oder seiner Abschiebung die Freiheit entziehen kann. Es handelt sich also um keine Straf- sondern eine reine Sicherungsmaßnahme, welche der Behörde die Abschiebung erleichtern soll.

Wurde der Asylantrag abgelehnt und besitzt der [oder die] Betroffene keine Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung, muss er [oder sie] gemäß Asylrecht ausreisen. Ist die Ausreisepflicht durchsetzbar, kann eine Abschiebung durchgeführt werden, wenn eine freiwillige Ausreise nicht erfolgt. Um die Abschiebung zum gesetzten Zeitpunkt möglich zu machen, kann der [oder die] Betroffene in Abschiebehaft genommen werden.

Anwalt.org

In Abschiebehaft kommt also, wer ausreisepflichtig ist und bei der oder dem Fluchtgefahr besteht. Dabei beträgt die Haftdauer in der Regel drei bis maximal 18 Monate und die jeweilige Behörde unterliegt dem Gebot Verfahren zu beschleunigen, um die Haftzeit so kurz wie möglich zu halten.

Konkret heißt das also, dass einem Menschen das Grundrecht auf Freiheit entzogen wird, um einen Verwaltungsakt zu erleichtern. Bereits da schleicht sich mir das Gefühl ein, dass hier etwas falsch läuft. Erschrecken tut es mich außerdem von dem zu hören, was innerhalb der Abschiebungsverfahren teilweise schief läuft, mit direkten Folgen für die Betroffenen. Laut Rechstanwalt Peter Fahlbusch ist die Hälfte der Inhaftierungen von Menschen in Abschiebungshaft rechtswidrig. Dieser setzt sich seit vielen Jahren für Menschen in Abschiebehaft ein und gibt am Fachtag Einblicke in seine Arbeit. Die Anzahl unrechtmäßiger Verfahren, die er erlebt, sei ungeheur.

Einige der gravierenden Patzer sind die Inhaftierung nicht ausreisepflichtiger Menschen, obwohl das die Grundvoraussetzung für Abschiebungshaft ist, oder derjenigen, die keinen Haftgrund verwirklichen entgegen behördlicher Behauptung. Ein großes Problem ist außerdem, dass Haftanträge den Betroffenen nicht ausgehändigt oder übersetzt werden, sodass diese teilweise selbst nicht wissen, warum sie inhaftiert werden. Bei einem Betroffenen, der uns in Hamburg seine Geschichte erzählt, war das so. Ihm war bis ans Ende seiner dreimonatigen Haft nicht bewusst, warum er inhaftiert wurde. Er erzählt von seinen Ängsten während dieser Zeit. Letztendlich stellte sich heraus, dass auch er einer der 50% ist, die vollkommen unrechtmäßig inhaftiert wurden, da kein Haftgrund vorlag. Für ihn sei es ein dreimonatiger Rückschlag gewesen in dem Versuch, sich zu integrieren – eine Zeit enormer psychischer Belastung.

Wenn man sich vorstellt, jede zweite Abrissverfügung eines Hauses wäre fehlerhaft und bemerkt wird das immer erst, wenn das Haus nicht mehr steht… Oder jede zweite BAföG-Entscheidung wäre fehlerhaft, so dass unsere Kinder nicht studieren können… Oder jede zweite Haftentscheidung gegen ein paar minderjährige Eierdiebe wäre fehlerhaft: Das gäbe – vollkommen zu Recht – einen Aufschrei! Im Abschiebungshaftrecht hingegen scheint eine 50-prozentige Fehlerquote niemanden zu irritieren. Warum ist das so?

Peter Fahlbusch im Interview bei Pro Aysl

Warum ist das so? Weil kaum jemand um die Thematik weiß, es viele aber auch nicht interessiert. Einen gesellschaftlichen Aufschrei gibt es angesichts der alamierenden Zahlen nicht. Da fängt das Problem aber auch schon an, denn offizielle Zahlen gibt es gar nicht. Resonanz findet das Thema außerdem wie so viele nur dann, wenn es um unseren eigenen Vorgarten, die Nachbarschaft oder Gemeinde geht, so wie in Glückstadt.

Leben minus Freiheit

Dort wird im vergangenen Jahr ein Abschiebegefängnis eröffnet – unter dem vor Zynismus triefenden Motto „Wohnen minus Freiheit“. Inwiefern es sich hinter fünf Meter hohen, mit NATO-Draht versehenen, Metallgitterzaunbarrieren „wohnen“ lässt, steht außer Frage; gar nicht. Jene Rethorik vertuscht, was nicht zu verstuschen ist, und zwar die Entscheidung entgegen des ursprünglichen Planungsrechts, eine Erstaufnahmeeinrichtung zu bauen. Stattdessen wurde einen Knast errichtet. Dabei äußern sich einige Mitglieder des Bauausschusses ganz unverblühmt. Sie plädieren für ein Abschiebegefängnis, da sich die Menschen der geplanten 1000bettigen Erstaufnahmeeinrichtung frei durch Glückstadt bewegen könnten und dies für die Stadt nicht tragbar wäre, Xenophobie pur.

Stattdessen werden lieber bis zu 60 Menschen (das Abschiebegefängnis hat deutlich weniger Kapazität) eingesperrt. Berufen wird sich außerdem immer wieder auf den Rechtsstaat, dessen Prinzipien man unterliege, und mit dem Bau einer Abschiebungsanstalt Folge leiste. Ein Rechtsstaat, in dem über 50% der Abschiebungsinhaftierungen ausdrücklich nicht rechtens sind? Wieder triefen Rechtfertigungsversuche vor Inkohärenz, scheinen schlussendlich aber zu überzeugen. Denn seit einem Jahr steht das Gefängnis in Glückstadt. Zeit Fahlbuschs Zahlen noch einmal sacken zu lassen, denn offzielle Zahlen der Landesregierungen gibt es im Statistik-Weltmeisterland Deutschland erstaunlicherweise nicht.

Von den 2.215 Mandantinnen und Mandanten waren 1.164, also 52,6 Prozent, nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert, manche „nur“ einen Tag, andere monatelang. Zusammengezählt kommen auf die 1.164 Gefangenen 30.507 rechtswidrige Hafttage, das sind gut 83 Jahre rechtswidrige Haft. Im Durchschnitt befand sich jede/r Mandant/in knapp vier Wochen, genau: 26,2 Tage, zu Unrecht in Haft. Das sind meine aktuellen Zahlen Stand 7. März [2022]. Rund 100 Verfahren laufen z.Zt. noch. 

Peter Fahlbusch

Wenn wir solche Rechtsbrüche nicht hinnehmen wollen, müssen wir uns solidarisieren und aktiv werden. Initiativen wie die Refugee Law Clinics machen bereits vor, wie das aussehen kann. Ehsan Abri beschreibt seine 49tägige Haft in einer Dokumentation des NDR „wie ein Koma, du bist da, gleichzeitig bist du nicht da, du weißt nicht was in der nächsten Stunde passieren wird, denn wir haben keine Kontrolle über unser Leben mehr“. Wohnen ohne Freiheit also. Abgesehen von dem Widerspruch dieser Formulierung als solche, frage ich mich auch, was vom Leben oder Wohnen noch übrig bleibt wenn es heißt „minus Freiheit“. Nicht viel.

Abschiebungshaft ist ein anachronistisches Instrument rückwärtsgewandter nationalistischer Migrationskontrollpolitik, das abgeschafft gehört.

Martin Link

Rechtlich gesehen bleibt das Thema sehr kontrovers, denn eindeutig ist die Rechtslage nicht. Handfeste Verstöße lassen sich in erschreckender Zahl dennoch feststellen und schreien nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis der Abschiebehaft. „Im Zweifel für die Freiheit“ ist als universelles Prinzip fundamental für unseren Rechtsstaat. Warum dann jede[r] zweite Inhaftierte zu Abschiebezwecken unrechtmäßig hinter Gitter gesperrt wird, müssen wir uns dringend fragen. Dabei stehen hinter den Zahlen tragische Einzelfälle. Familien werden in Abschiebungshaft getrennt, darunter auch minderjährige Kinder von ihren Eltern, Bezugspersonen und gesetzliche Vertreter:innen fehlen. Diese Praxis belastet die Menschen brutal. Das geht soweit, dass einige in den Hungerstreik treten oder sich das Leben nehmen.

Laut der aktuellen Großen Anfrage der Linken im Bundestag liegt zum Beispiel der Tagessatz von Abschiebehaft im hessischen Darmstadt pro Person bei stolzen 445,28 €. Meines Erachtens ist die ganze Abschiebepolitik vor allem Symbolpolitik. Denn mit dem Geld, das der Staat ausgibt, um die Abschiebekandidaten einzusperren, könnte man sie auch ein Leben lang auf Hartz-IV-Niveau hier versorgen. Glaubt denn ernsthaft irgendjemand da draußen, dass Zehntausende Menschen mehr zu uns kommen würden, wenn es keine Abschiebegefängnisse gäbe?

Peter Fahlbusch

Besser kann man es nicht sagen. Also lasst uns darüber reden, warum wir Menschen einsperren, die keine Straftat begangen haben. Würden wir das nicht bereits lange tun, wenn es dabei um unsere eigene Familie ginge?

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