„Hast du schon wieder bestellt?!“ – Wenn Shopping zur Sucht wird

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„Unten steht ein Paket für dich – aber… hast du nicht gestern erst eins bekommen? Du bist ja ein richtiger Shopaholic!“ Oder: „Du, was du so bestellst ist ja nicht meine Sache, aber kannst du vielleicht langsam mal die ganzen Kartons aus dem Flur räumen?“ So oder so ähnlich könnten sich Sätze aus einem Gespräch zwischen einer kaufsüchtigen Person und ihren Mitmenschen anhören.

Ja, so etwas gibt es wirklich. Und es bedeutet mehr als den ein oder anderen ausgearteten Shoppingtrip hinter sich zu haben. Kaufsucht – oder auch Oniomanie – ist tatsächlich eine Sucht bzw. ein Zwang, von dem sich Betroffene aus eigener Kraft meist nicht mehr lösen können. Oder in den Worten des österreichischen Psychologen und Schriftstellers Werner Stangl: „Oniomanie, (von griech. onios = „zu verkaufen“) bezeichnet die Kaufsucht und ist eine psychische Störung, die sich als zwanghaftes, episodisches Kaufen von Waren selten auch Dienstleistungen äußert. Sie wird ähnlich wie die Spielsucht oder die Arbeitssucht nicht als eigenständige Krankheit gesehen, sondern zu den Zwangsstörungen oder Impulskontrollstörungen gezählt.“ (Stangl, 2022)

Welches Ausmaß diese Störung für Betroffene haben kann, ist für Außenstehende lediglich erahnbar. Nicht nur nimmt sie Zeit in Anspruch, hinzu kommen finanzieller Druck, wie oft ein hoher Leidensdruck (sofern die Störung überhaupt bei sich selbst bemerkt wird), von dem auch das direkte Umfeld betroffen sein kann. Eine 2021 veröffentlichte Studie eines deutsch-australischen Forschungsteams unter Federführung der MHH-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie (MHH steht für Medizinischen Hochschule Hannover) kam zu dem Ergebnis, fünf Prozent der Deutschen seien mindestens kaufsuchtgefährdet (siehe MHH). Laut einer Studie der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2017 sollen bei den Österreicher:innen sogar ein Viertel kaufsuchtgefährdet sein. Frauen seien deutlich stärker betroffen als Männer (siehe Arbeiterkammer Wien). Und in der Schweiz soll die Zahl der Kaufsüchtigen 2019 ungefähr so hoch gewesen sein, wie die der Alkoholabhängigen (siehe Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung, Erhebung auf der Seite verlinkt).

Zum Vergleich: 2018 waren 12,6 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 64 alkoholabhängig (siehe Bundesministerium für Gesundheit) und 2019 unter einem Prozent der zwischen 16- und 70-jährigen Deutschen spielsüchtig (siehe Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung). 

Hinter diesen Zahlen stecken Menschen. Jede:r weiß das, und trotzdem wird ihre Not zu leicht übersehen. Bei einer Oniomanie geht es nicht um die konkreten Gegenstände, die erworben werden. Denn im Regelfall werden sie ohnehin direkt nach dem Kauf, bzw. dem Eintreffen zu Hause, irrelevant. Es geht um den Akt. Den Versuch, sich durch die Aneignung neuen Eigentums besser zu fühlen. Und anderes damit zu unterdrücken.

Es ist kein Zufall, dass von einer Kaufsucht betroffene Personen meist unter weiteren Krankheiten, bzw. Störungen oder Zwängen leiden. Zum Beispiel unter Depressionen, Alkohol-, Internet- oder Spielsucht, Sammelzwängen oder einer Persönlichkeitsstörung. Das Prinzip werden viele kennen: Einen richtig harten Tag hinter sich haben und sich fürs Durchhalten belohnen oder einen kleinen oder großen Misserfolg erleben und sich dann davon ablenken. Vielleicht mit einem neuen Kleid, einer Jacke oder, wenn es etwas ganz Besonderes sein soll, einem Motorrad oder einem neuen Sofa. Das wird „kompensatorisches Kaufverhalten“ genannt. Warum das aber etwas anderes als tatsächliche Kaufsucht ist, kommt später.

Menschen mit Zwängen, Persönlichkeitsstörungen und Krankheiten fühlen vergleichbar schmerzhafte Gefühle stärker und ständig – und möglicherweise auch ständig den Drang, sie zu unterdrücken. Das Mittel zum Zweck sind Drogen, selbstverletzendes Verhalten, lange Tage, in denen das Bett nicht verlassen wird, … Die Liste ist lang. Und das unkontrollierte Kaufen scheint da eher einer der harmloseren Punkte zu sein, gehört aber dazu und hat ebenfalls viel Potential, Leid zu verursachen.

Doch wo ist die Grenze zu einer gesunden Belohnung oder Kompensation durch Konsum? Wie bei eigentlich allen psychischen Störungen oder Krankheiten gibt es da keine klare Linie. Dafür aber Kriterien, die helfen, eine Oniomanie zu identifizieren.

  1. Das eigene Kaufverhalten erzeugt Leidensdruck und benötigt viel Zeit. Soziale und berufliche Beziehungen leiden ebenso. Es treten finanzielle Probleme auf, bzw. die gekauften Gegenstände häufen sich an und nehmen z.B. Wohnraum in großem Maß in Anspruch. 
  1. Exzessives Kaufen tritt nicht im Rahmen einer Manie oder Hypomanie auf. 
  1. Zudem muss mindestens einer der folgenden Punkte auf Fehlanpassung bezüglich des Konsums zutreffen: 
    • Häufige und starke Beschäftigung mit Kaufen bzw. Kaufimpulse, die sich unabwendbar aufdrängen und eigentlich sinnlos erscheinen.
    • Häufiges Kaufen (von Dingen, die nicht benötigt werden) über die vorhandenen finanziellen Mittel hinaus und über einen längeren Zeitraum als eigentlich geplant.

*Die Kriterien wurden vom öffentlichen Gesundheitsportal Österreichs übernommen.

Hier Informationen über Manie (übersteigertes und häufig unbegründetes Hochgefühl) bzw. Hypomanie, eine abgeschwächte Form der Manie.

Die AOK gibt zusätzlich an, dass für eine Oniomanie Käufe durch starke Emotionen verursacht und als belohnend und identitätsstiftend erlebt werden. Das ist hier nachzulesen.

Kompensatorisches Kaufverhalten weist zwar Ähnlichkeiten zur Oniomanie auf, ist jedoch lediglich ein Risikofaktor für die Krankheit und kann deshalb von ihr abgegrenzt werden. Probleme werden zwar durchs Shoppen vor sich hergeschoben, letztendlich dann aber doch gelöst, Käufe zur Entspannung und Belohnung finden nur gelegentlich statt, auch der Kontrollverlust passiert nur zeitweise, die gekauften Gegenstände haben einen hohen persönlichen Wert und Shopping kann tatsächlich auch einfach nur ein Hobby sein (siehe öffentliches Gesundheitsprotal Österreichs). Gar nicht so leicht also, hier wirklich final zu unterscheiden. 

Und nicht nur die Diagnose ist schwierig, dasselbe gilt für die Behandlung. Denn das Kaufen zu umgehen, ist in unserer Konsumgesellschaft nahezu unmöglich. Allein wenn es um Lebensmittel und Kleidung geht. Ein kalter Entzug und Abstinenz sind also undenkbar. Zumindest nicht auf Dauer. Und die Versuchung lockt, auch wenn Betroffene ihre Wohnung nicht verlassen. Oder nicht verlassen können, weil die Welt im Lockdown steckt. Kaufen und bezahlen, mit einem Klick und jederzeit. Was bleibt, sind verhaltenstherapeutische Ansätze, Musik- und Kunsttherapie, Sport. Auch Sozialarbeiter:innen und Selbsthilfegruppen können unterstützen. Es ist also nicht aussichtslos. 

Doch muss erst einmal erkannt werden, dass das eigene Verhalten problematisch ist. Gerade wenn Konsum etwas ist, das so leicht, so hoch angesehen und so stark beworben ist. Kaufe dies, kaufe jenes, kurble die Wirtschaft an, support your locals, und so weiter. Doch spätestens, wenn das Geld am Ende des Monats oft knapper ist, als noch in den Monaten davor, die Wohnung immer voller wird mit Dingen, die nicht gebraucht werden oder der ein oder andere Kommentar von Angehörigen kommt, ist Vorsicht geboten.

Ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis kann die sog. „Bergen Shopping Addiction Scale” sein. Sie wurde 2014 von Dr. Cecilie Schou Andreassen der Universität Bergen (UiB) veröffentlicht. Ziel war die Entwicklung eines neuen Werkzeugs zur Identifikation von Oniomanie. Die Skala wurde an insgesamt 23.537 Teilnehmenden getestet und wies einen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Antworten und dem Vorhanden- bzw. Nichtvorhandensein einer Kaufsucht auf, sodass diese anhand der abgegebenen Antworten eines Individuums festgestellt werden kann (Andreassen, 2012). Genauere Angaben zu Validität und Reliabilität der Skala sind hier zu finden: „The Bergen Shopping Addiction Scale: Reliability and validity of a brief screening test“.

Und den Test (mit dem eine Kaufsucht möglicherweise identifiziert werden kann) selbst gibt es hier: Bergen Shopping Addiction Scale (BSAS).

HINWEIS: Um eine Oniomanie tatsächlich nachzuweisen reicht die BSAS nicht aus. Eine Diagnose kann ausschließlich durch den*die behandelde*n Psychiater*in oder Therapeut*in gestellt werden.

Hier außerdem noch das Suchthilfeverzeichnis der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS), das bei der Suche nach Beratung hilft: Suchthilfeverzeichnis DHS.

Und Telefonseelsorgen in Deutschland, Österreich und der Schweiz als erste Anlaufstellen:

Verwendete Literatur:

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