Kommentar
Heute startet die wohl umstrittenste Fußball-Weltmeisterschaft aller Zeiten. Im Eröffnungsspiel um 17 Uhr tritt das Gastgeberland Katar gegen Ecuador an und obwohl das Spiel noch nicht einmal begonnen hat, bahnt sich bereits der nächste Skandal an. Laut Insidern habe Katar acht Nationalspielern der Ecuadorianischen Mannschaft Geld angeboten, damit das Spiel 1:0 ausgehe. Mit ganzen 7,4 Millionen Dollar sollte schon das erste Spiel gekauft werden. Hat das noch etwas mit Sport zu tun?
In den letzten Monaten wird die Debatte über den richtigen Umgang mit der WM immer lauter. Fußballstimmung kommt da nicht auf. Weihnachtsstimmung erst recht nicht. Die eine Frage ist: wie sollten wir als Gesellschaft mit der WM umgehen? Eine ganz andere ist jedoch, wie ich als Privatperson die WM erleben (oder auch eben nicht erleben) soll. Bringt es etwas, wenn ich den Fernseher nicht einschalte, wo die Lizenzen doch bereits für 214 Millionen von meiner GEZ Gebühr bezahlt wurden? Wenn ich kein Public Viewing besuche, bekommen die homosexuellen Menschen in Katar auch nicht mehr Rechte. Mein ausgeschalteter Fernseher bringt keine toten Gastarbeiter zurück. Trotzdem werden die Forderungen nach einem totalen Boykott der WM immer lauter. Und das, obwohl längst klar ist, dass die deutsche Nationalmannschaft spielen wird.
Sollte ich also die WM boykottieren? Oder gibt es vielleicht einen besseren Weg, mit der umstrittenen Weltmeisterschaft umzugehen?
Boykotte von internationalen Sportveranstaltungen gab es in der Vergangenheit bereits einige, nur wenige sind jedoch in der kollektiven Erinnerung geblieben, was auf der einen Seite den geringen Wirkumfang eines Boykotts, auf der anderen Seite die lückenhafte Deutsche Erinnerungskultur aufzeigt. Beispielsweise wurden 1980 die Olympischen Sommerspiele in Moskau durch die USA und einige Alliierte boykottiert, mit dem Ziel, die Sowjetunion zu einem Rückzug aus Afghanistan zu bewegen. Auch an den Boykott der Spiele von Montreal im Jahr 1976 durch 22 afrikanische Staaten für den Ausschluss der Niederlande aus dem IOCC, nachdem diese weiterhin Beziehungen zur Apartheid aufrechterhielten, kann sich heute kaum mehr jemand erinnern. Vermutlich auch, weil der politische Erfolg ausblieb. Die Sowjetunion behielt weiterhin ihre Finger im Afghanischen Spiel und auch die Apartheid scheiterte nicht an boykottierten olympischen Spielen. Dementsprechend sind Boykotte von Sportveranstaltungen nur ein schwaches politisches Werkzeug.
Es ist allerdings längst klar, dass die deutsche Nationalmannschaft in Katar spielen wird. Der Boykott, der gefordert wird, ist also weder ein politischer, noch ein sportlicher, sondern ein Zuschauer- bzw. Konsumentenboykott.
Was kann ein Boykott durch die Zuschauer erreichen?
Wenn tatsächlich mehr als die Hälfte der Deutschen, die bisher angibt, die Spiele nicht schauen zu wollen, den Fernseher auslässt, wird dies spürbare Auswirkungen auf die Einschaltquoten haben. Mit geringeren Einschaltquoten sinkt auch der Erfolg der von zahlreichen Unternehmen geschalteten Werbung. Die Konsequenz: Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen erneut Werbung bei einer WM buchen, sinkt und damit auch ein großer Teil der Einnahmen für den ÖRR. Dadurch hätte man zwar etwas erreicht, um ARD und ZDF zu zeigen, die ebenfalls umstrittenen GEZ-Gebühren nicht für Angebote zu verschleudern, die weniger als die Hälfter der Deutschen sehen wollen – ob das in Katar Menschenrechte fördert, ist allerdings fraglich.
Ein Zuschauerboykott hätte allerdings durchaus das Potenzial, der Fifa noch einmal deutlich zu signalisieren, was sich an der Vergabepolitik ändern muss. Die Vergabe an Katar geschah vor 10 Jahren und bis heute hat sich das Vergabeverfahren zumindest in kleinen Schritten verbessert. Transparenz und Antikorruption müssen von der FIFA jedoch noch viel konsequenter verfolgt werden. Tatsächlichen Druck konnten da bisher nur die amerikanischen Ermittlungsbehörden auswirken.
Die WM hat Katar verändert
Katar versucht mit der Austragung der WM sein angeknackstes Image aufzupolieren. Man möchte nicht mehr als im politischen System irrelevanter Wüstenstaat gelten, sondern als progressiver Staat mit wertvollen Handlesbeziehungen anerkannt werden. Es sind vorsichtige Reformen, die Katar an den Start bringt. In den vergangenen sechs Jahren hat das katarische Außenministerium die Lage für Gastarbeiter*innen auf europääische Standards verbessert – Zumindest auf dem Papier was Arbeitszeiten, Ruhephasen und Beschwerdemöglichkeiten angeht. Ob diese neuen Rechte allerdings genutzt werden, ist eine andere Frage. Viele Arbeiter*innen fürchten, ausgewiesen zu werden und gar kein Geld mehr zu verdienen. Ein Desaster für viele. Allein in Nepal sind fast 60% der Haushalte von Geldeingängen durch Arbeitsmigration abhängig.
Amnesty und Human Rights Watch dokumentieren zahlreiche Verstöße gegen die neuen Gesetze. Reformen, an die sich keine hält, so lange das öffentliche Auge gerade woanders hinschaut. Kaum prüfbare Zahlen, was Tode von Gastarbeiter*innen oder ausgebliebene Lohnzahlungen angeht.
Deshalb fordert Amnesty gemeinsam mit Gewerkschaften und Fangruppen ein Entschädigungsprogramm durch die FIFA. 440 Millionen Dollar soll die FIFA an Gastarbeiter*innen zahlen. Das entspricht der Summe der WM-Preisgelder. Anstatt also die Fußballer, die zumeist an Geldmangel nicht leiden, mit weiteren Millionen zu überschütten, sollen diejenigen bezahlt werden, deren Blut und Schweiß für die Austragung dieser Spiele geflossen ist. Für die Nationalspieler sollte das in Ordnung gehen; ihnen geht es doch sowieso mehr um die „großartige Chance“ bei einem „einzigartigen, internationalen Wettbewerb“ auf dem Platz zu stehen und „das Runde im Eckigen zu versenken“. Oder etwa nicht?
Der Ruf nach einem Boykott ist verständlich, aber zu spät
An der Frage, ob ich nun als Privatperson die WM boykottieren sollte, scheiden sich die Geister. Die einen sagen: Ja, denn jedes nicht gekaufte WM-Fanprodukt ist ein Cent weniger in den Taschen der FIFA, die seit Jahren den Weltsport Fußball zerstöre. Jeder ausgeschaltete Fernseher ist ein Zeichen an die zuständigen da oben: „So geht es nicht. Hier werden aktiv Menschenrechte verletzt, da mache ich nicht mit.“ Der Schrei nach einem Boykott ist also komplett nachvollziehbar und verständlich. Viele Uninteressierte werden sich freuen: Sie müssen dieses Jahr keine Spiele schauen, bei denen sie sich 90 Minuten langweilen, müssen keine Einladungen zum gemeinsamen Pulbic Viewing bei Glühwein ausschlagen und sich dabei schlecht fühlen. Im Gegenteil, sie verpassen nichts und tun auch noch das, in den Augen vieler Menschen, moralisch Richtige.
Die anderen sagen: Nein, denn ein Zuschauerboykott bringt die toten Gastarbeiter*innen nicht zurück. Man sei zu spät, die Vergabe fand vor 10 Jahren statt. Wenn, dann hätte damals etwas passieren müssen. Die Stadien sind gebaut, die Mannschaften angereist. Wer den Fußball wirklich liebe, der schaue des Sportes wegen zu. Ich, als Privatperson, bin nicht in der Verantwortung, ein politisches Statement zu setzen. Das liegt in den Händen derjenigen, die wirklichen Druck ausüben können. Die dafür sorgen können, dass die Korruption unterbunden wird. Es liegt in den Händen derjenigen, die Geld für Menschenrechtsorganisationen spenden können. Ich bin nicht verantwortlich für die Menschenrechtsverletzungen in Katar.
Wie ich trotzdem etwas tun kann.
Auch, wenn der Zuschauerboykott der WM nur geringe Wirkung zeigen wird, heißt es nicht, dass er unnötig ist. Geforderte Boykotte sollten nicht kleingeredet werden, nur weil sie alleine die FIFA nicht reformieren werden. Wenn die Vergabe der WM nach Katar eines gezeigt hat, dann dass der öffentliche Diskurs durchaus die Macht hat, Dinge zu verändern. Wichtiger als ein- oder ausgeschaltete Fernseher, ist meine Entscheidung, mich zu informieren.
Ja, es ist okay die WM ohne schlechtes Gewissen schauen, ich sollte dies allerdings nicht unwissend tun. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich über Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt zu informieren. Wer möchte, kann sogar selbst tätig werden und sich in einer der verschiedenen Insitutionen engagieren, die sich für Menschenrechte einsetzen und denjenigen helfen, denen sie verwehrt werden. Im Angesicht der WM ist es wichtiger denn je, sich zu bilden und im Gespräch zu bleiben. Zu reflektieren, wie die WM mit Katar verändert, was sie mit uns als Gesellschaft und was sie mit mir als Privatperson macht. Informationen zu teilen, zu diskutieren und Betroffenen Plattformen bieten. Dabei ist es jedoch wichtig, die Informationen so gut es geht unabhängig zu prüfen. Besonders die Debatte um die Anzahl der tatsächlich auf WM-Baustellen gestorbenen Gastarbeiter*innen nahm zuletzt unnötig Aufmerksamkeit vom eigentlichen Diskurs.
Es lohnt sich ebenfalls, einen Blick auf die Liste der Sponsoren der diesjährigen WM zu werfen. Wer ein Zeichen setzen möchte, kann dies mit bewusstem Konsum durchaus tun. Zu den Sponsoren gehören dieses Jahr unter anderem Visa, Coca-Cola, Adidas und McDonalds. Wer also die WM dieses Jahr mit einer Apfelschorle und einem selbstgemachten Burger verfolgt, tut damit nicht nur etwas für seine Gesundheit.
Und wer trotzdem sagt, die WM werde ich mir dieses Jahr nicht anschauen, für den oder die hat die TAZ eine lange Liste an Alternativveranstaltungen und -aktivitäten zusammengestellt. Zwischen Dorffußball und Kontiolathi wird klar: Profi-Männerfußball ist nicht der einzige Sport auf der Welt, der Aufmerksamkeit verdient.
Sehr umfassender Artikel, trotzdem ist meiner Meinung nach die Trennung von Privatperson und politischem Selbst sehr problematisch. Vor dem Hintergrund der Situation wie du sie schilderst ist es beschämend, dass der öffentliche Aufschrei ausbleibt – mit Sport hat die Veranstaltung rein gar nichts mehr zu tun und das Argument, dass ein Boykott die ermordeten Arbeiter:innen zurück bringt ist nicht valide. Ja, ich habe wenig Macht gegen eine milliardenschwere FIFA und trotzdem ist es umso wichtiger zu boykottieren und uns öffentlich zu empören, wenn dazu schon keine:r der Akteur:innen der WM den Anstand hat. Dabei ist ein „mich informieren“ ein erster Schritt, dann die Glotze einzuschalten und wegzusehen aber sehr wohl eine politische Entscheidung. „To know and not to act“ macht uns zu stillen Schaulustigen einer „Sport“veranstaltung, für die Menschen ermordert wurden.
LikeLike