Kommentar
Was seit einigen Wochen im Dorf Lützerath in der rheinischen Braunkohleregion passiert geht uns alle an. Der Umgang der Politik mit den sogenannten „Klimaterrorist:innen“ macht einmal mehr deutlich, wie demokratische Grundsätze schlichtweg untergraben werden. Wofür? Um nach mehr Kohle zu graben, die es bewiesenermaßen nicht einmal braucht, um den seit Kriegsausbruch erhöhten Kohlestrombedarf zu decken. So kommt eine Gruppe Wissenschaftler:innen der „Fossil Exit Group“ zu dem Schluss, dass
[…] der Vorrat im Abbaugebiet des Hauptbetriebsplans 2020-2022 für den Tagebau Garzweiler II selbst unter konservativen Annahmen auch ohne Inanspruchnahme von Lützerath ausreichend ist, um die angebundenen Kraftwerke Neurath und Niederaußem sowie Veredelungsbetriebe bis Ende 2030 zu versorgen.
Diese Studie belegt somit, dass weder eine energiewirtschaftliche Notwendigkeit für die Inanspruchnahme weiterer Dörfer und Höfe am Tagebau Garzweiler II besteht noch eine energiewirtschaftliche Rechtfertigung zur Genehmigung neuer über den Bereich des aktuellen Hauptbetriebsplan hinausgehender Abbauflächen.
CoalTransitions.org
Der börsennotierte Energieriese RWE legt andere Zahlen vor, laut denen die Kohle unter Lützerath unverzichtbar für die deutsche Energieversorgung sei – nur so eine Vermutung, dass aus diesen Zahlen „auch“ Kapitalinteressen sprechen. Diese machen bekanntlicherweise nicht vor dem auf der COP 21 in Paris beschlossenen 1,5° Ziel halt (der Begriff des „Ziels“ ist meiner Meinung nach unangemessen da es sich um ein aboslutes Limit handelt, welches wir sehr zielstrebig bereits verfehlen). Während unsere Ampel-Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag zu dieser 1,5° Grenze bekennt, äußert sich „Klimaminister“ und Vizekanzler Robert Habeck in dem er die Räumung verteidigt und zu Gewaltverzicht aufruft. „Die leergezogene Siedlung Lützerath, wo keiner mehr wohnt, ist aus meiner Sicht das falsche Symbol“ so ergießt sich Habeck in leeren Worthülsen und widersprüchlicher Apologetik einer Politik, die offensichtlich nicht versteht, dass es den tausenden Aktivist:innen zwar auch um das Dorf, vor allem aber um die Kohle darunter geht und zwar, dass diese genau dort bleibt.
Beauftragt von der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin ausgerechnet, wie viel Kohle im Rheinischen Braunkohlerevier noch abgebaut werden darf, ohne das 1,5°-Limit zu gefährden. Das DIW kommt zum Ergebnis, dass noch maximal 235 Millionen Tonnen Kohle in den drei Tagebauen der Region – Inden, Hambach und Garzweiler II – aus der Erde geholt werden dürfen. Bei dieser Begrenzung können alle Ortschaften am Tagebau Garzweiler erhalten bleiben – einschließlich Lützeraths. Es wird klar: vor Lützerath verläuft Deutschlands 1,5°-Grenze. RWE Deal und Koalitionsvertrag sind nicht vereinbar. Trotzdem gibt die Regierung das Go, weitere 280 Millionen Tonnen Kohle zu fördern.
Tröstlich und zugleich tiefst schockierend sind die Bilder und Videos der Räumung. Mich ermutigt, dass die Krise immer mehr Menschen politisiert. Unzählige Aktivist:innen setzen sich in Lützerath und bei Soli-Aktionen für ihre Rechte ein. Auch internationale Solidaritätsbekundungen gibt es zahlreiche. Gleichzeitig macht mich die massive Polizeigewalt fassungslos – Schmerzgriffe und Schlagstöcke, nächtliche Räumungen und fahrlässige Demontage von Tripods, verwehrter Zutritt für Sanitäter:innen und Journalist:innen. Auch Tränengas kommt zum Einsatz. Das Gas kann schwere bis tödliche Folgen haben, weshalb es seit 1925 als Kriegswaffe verboten ist. Dass es bis heute großzügig in den meisten Ländern gegen Protestierende zum Einsatz kommt ist ein Skandal für sich. Fest steht aber, vor dem Hintergrund dieser zynisch repressiven und destruktiven Gewalt des Staates klingt die Aufforderung von Politik und Polizei zur Gewaltlosigkeit ironisch.
Vor Ort

Gestern Nacht um halb fünf rollt unser Bus vom Dammtor Richtung Nordrhein-Westfalen und entgeht nach nicht einmal fünf Minuten nur knapp einer Polizeikontrolle, die andere Busse der Fridays for Future Ortsgruppe anhält. Wir schaffen es ohne Umstände nach Lützerath müssen uns aber für die letzten Meter in eine Kolonne aus schweren Polizeifahrzeugen inklusive unzähliger Pferdetransporter einreihen. Dabei wird mir das erste Mal etwas mulmig zumute. Der Demozug startet nachdem wir Lebensmittel- und Sachspenden ins Unser Aller Camp gebracht haben. Wir sind viele. Wie viele, das wird mir erst bewusst als wir am Feld der Abschlussgebung am Rand des Tagebaus ankommen. Von allen Seiten ströhmen Menschen Richtung Abbruchkante und Bühne. Es macht Hoffnung und ist wahnsinnig belebend zu sehen, wie viele Familien, junge und alte Menschen hier für ihre Zukunft zusammen kommen und die politische Apathie, die ich manchmal als überwältigend wahrnehme, selbst in meiner Generation doch nicht so eminent zu sein scheint. Vom Kundgebungsort aus ist kein Ende der Menschenströhme auszumachen, die sich im ströhmenden Regen ihren Weg durch den knöcheltiefen Matsch bahnen.


Meine Gruppe folgt dem Demozug zur Abbruchkante. Der Anblick ist fürchterlich. Natürlich kenne ich die Bilder vom „größten Loch Europas“, den Baggern und Kohlekraftwerken. Direkt am Rand zu stehen ist eine ganz andere Erfahrung. Ich fühle mich ohnmächtig. Ohnmächtig vor dem Anblick des mehrere Tausend Tonnen schweren Baggers und vor den Hunderschaften, die Lützerath wie ein Fort umstellt haben. Ich fühle mich wahnsinnig naiv dafür, dass ich mit Pappschildchen Freitags auf die Straße gehe um gegen ein System zu protestieren, welches mit allen Mitteln den fossilen Kapitalismus verteidigt. Die Grünen, die ihre Wahlerfolge maßgeblich der Mobilisierung durch Fridays for Future und andere Klimagruppen zu verdanken haben, verkaufen hier ihr letztes bisschen Glaubwürdigkeit an RWE (noch am Freitag fand der Neujahrsempfang der Partei in Hamburg unter dem Motto „mit neuer Energie in das neue Jahr“ statt – glaubt ihr euch eigentlich selbst?). Die Realpolitik beweist seit Jahren, dass sie in keinster Weise in der Lage ist, die ökologisch-wirtschaftliche Transformation einzuleiten, die wir zur Vermeidung der schlimmsten Folgen der Klimakrise brauchen.
Was später auf der Demo passiert schockiert mich zu tiefst. Abseits der Kundgebungen brechen hunderte Aktivist:innen aus der Gruppe aus werden unter massivstem Gewalteinsatz davon abgehalten, nach Lützerath durchzudringen. Was hier passiert ist sinnbildlich für die Gewalt, mit der der Staat die Kapitalinteressen der Konzerne verteidigt. Das was von Lützi nach den andauernden Räumungen übrig ist wird doppelt eingezäunt. Dahinter stehen Wasserwerfer, Transporter und eine Hundestaffel. Vor dem Zaun weitere Hundertschaften inklusive Pferdestaffel. Bereits auf dem Weg zur Kundgebung bekomme ich mit, wie Pyrotechnik fliegt und erste Versuche von Aktivist:innen unternommen werden, die Polizeiketten zu durchbrechen. Demonstrierende werden beleidigt, geschupst, mit Schlagstöcken verprügelt. Unsere Gruppe wird aufgefordert den Bereich um die Kante zu verlassen. Wir werden geschupst, ich und einige weitere Menschen stürzen und drehen um zur Abschlusskundgebung. Was später an Polizeigewalt folgen soll, das bekomme ich erst im Bus mit.
Ich fühle mich ohnmächtig, weil alles nichts zu bringen scheint. Wütend auf die Politiker:innen, die seit Jahren nicht zuhören, weder der Wissenschaft noch den Millionen jungen Menschen, die friedlich auf die Straße gehen. Was hat unser Protest überhaupt bisher bewirkt und warum geht alles viel zu langsam, während die Klimakrise so offensichtlich lange in vollem Gange ist?
Meine vollste Solidarität mit allen, die in Lützerath mit allen Mitteln für unsere Zukunft in den Widerstand gehen, dafür krankenhausreif verprügelt und zum Teil schwer verletzt werden, während die Grünen am Freitag im Rathaus ihren Prosecco schlürfen. Was ist das für eine Demokratie, in der Zukunftsängste und ein überwältigendes Gefühl politischer Teilnahmslosigkeit epidemisch sind?
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