Politischen Protest gibt es seit Jahrtausenden. Schon im 16. Jahrhundert protestierten Bauern und Bäuerinnen für bessere Lebensbedingungen. Heute gehen die Menschen für andere Ziele auf die Straße, sei es die Klimakrise, die Gewalt gegen Frauen im Iran oder die Corona-Politik. Doch anderes als damals laufen heutige Demonstrant*innen nicht mit Fackeln und Mistgabeln zur nächstgelegenen Burg. Gemeinsam mit der Kommerzialisierung des Internets hat sich eine neue Form des Protest entwickelt: Online Protest und Social Media Protest.
Wie sehr das Internet politische Protestbewegungen verändert hat, zeigt ein Blick in den Iran. Die Protestbewegungen gegen das unterdrückerische Regime verteilten sich rasend um die ganze Welt. An ihrer Spitze: Gen Z. Geboren zwischen 1997 und 2010 ist diese Generation mit dem Internet und Social Media aufgewachsen und sie nutzen ihre Kanäle, um ihren Protest zu verbreiten. Auf TikTok schneiden sich junge Frauen als Zeichen der Solidarität ihre langen Haare ab, schreiben Songs oder verbreiten Informationen über die Lage vor Ort. Zum ersten Mal finden auch diejenigen, die zuhause bleiben, eine Stimme.
Es ist kein Wunder, dass soziale Medien für politische Proteste genutzt werden. Sie bieten ein effizientes Mittel, um Informationen in Millisekunden weiterzuverbreiten. Durch Gruppenchats und andere Möglichkeiten der Vernetzung, erleichtern sie die Organisation von Protesten vor Ort. Auf der anderen Seite geben Sie jedoch auch autoritären Regierungen die Möglichkeit, Meinungen zu unterdrücken, Falschinformationen zu verbeiten und Andersdenkende aufzuspüren.
Disclaimer: Der folgende Text bezieht sich auf einen Artikel von Jost et al. aus dem Jahr 2014, publiziert im Journal of Political Psychology.
Social Media vereinfacht den Austausch von Informationen
Wenn es um die Teilnahme an politischen Protestaktionen geht, gibt es zwei Probleme: 1. Das sogenannte Free-Rider Problem: Wenn viele Menschen zu einer Demonstration gehen, hat die Anwesenheit des Einzelnen keinen Einfluss auf den Erfolg der Demonstration. Wenn allerdings jede*r so denken würde, würden Protestaktionen überhaupt nicht zustande kommen. Es ist also wichtig, Teilnehmer*innen zu motivieren, an der geplanten Protestbewegung teilzunehmen, und ihnen ihren großen Stellenwert zu vermitteln. 2. Der Participation Threshold: Wenn die Gefahr besteht, dass ein Protest gewaltsam niedergeschlagen wird, wird das eigene Risiko, Opfer dieser Gewalt zu werden, größer, je weniger Menschen am Protest teilnehmen. Daher gibt es eine bestimmte Schwelle an Teilnehmer*innen, die überschritten werden muss, damit andere Teilnehmer*innen sich sicher fühlen. Social Media vereinfacht die Weitergabe von Informationen bezüglich Teilnehmer*innenzahl oder erwarteter Polizeipräsenz (und -gewalt). So können sich Protestbewegungen leichter organisieren und das Free-Rider Problem, sowie der Participation Threshold umgangen werden.
Soziale Netzwerke verbreiten allerdings nicht nur Informationen über die Bewegung an sich, sondern auch über den Verlauf dieser. Im Jahr 2013 begannen in der Türkei die Ghezi-Proteste in Istanbul gegen den amtierenden Präsidenten Erdogan. Da die türkischen Leitmedien nur unzureichend über die Situation in Istanbul berichteten, wanderten die Menschen zu Twitter. Eine Analyse aller abgesetzten Tweets im Zeitraum des Protestes zeigte, dass der überwiegende Teil der Tweets während des Zeitraums des Protests tatsächlich vom Ort des Geschehens abgesetzt wurden. Das waren allein 30.000 Tweets in den ersten Tagen des Protestes. Auch in der Ukraine konnte im Jahr 2014 während der Euromaiden Protestbewegung ein starker Zuwachs an Facebook User*innen verzeichnet werden. Diese nutzten Facebook zur Organisation von Fahrgemeinschaften zu den Protesten und zur Koordination von Protestaktivitäten.
Occupy Wall Street – Was wird während Protestbewegungen getweeted?
Die Occupy Wall Street Bewegung, welche im Oktober 2011 als größte Protestbewegung Nordamerikas begann und sich für eine stärkere Kontrolle des Banken- und Finanzsektors, die Verringerung des Einflusses der Wirtschaft auf politische Entscheidungen und die Reduzierung sozialer Ungleichheit einsetzte, organisierte sich beinahe ausnahmslos über Twitter. 80.000 Tweets wurden während der Demonstration abgesetzt. Eine gewaltige Menge an Daten, um sich genauer anzuschauen, was Menschen überhaupt in ihre Tweets hineinschreiben. Die Analyse ergab, dass Twitter hauptsächlich genutzt wurde, um Schlüsselinformationen bezüglich Zeitpunkt und Ort des Protests zu verbreiten. 44 Prozent der Tweets beinhalteten irgendeine Art von Inhalt oder Information über den Protest, die Hälfte davon beinhaltete weiterführende Web-Links. 60 Prozent der Tweets äußerte Mitgefühl mit den Protestierenden vor Ort und 10 Prozent äußerten Sorgen und Gedanken zu verwandten Themen wir Fairness, Moralvorstellungen, Soziale Gerechtigkeit oder Armut.
„Small Change: Why the Revolution Will not be Tweeted“
„Kleine Veränderung: Warum die Revolution nicht getwittert wird“ – So schrieb der Journalist Malcolm Gladwell im Jahr 2010. Er bezog sich dabei auf die Abertausende von Twitteruser*innen, die über Protestbewegungen tweeteten und retweeteten, jedoch nie selbst an einer solchen teilnahmen. Diese User*innen würden nur sehr unwahrscheinlich an jener Art von Protestbewegung teilnehmen, die es bräuchte, um eine tatsächliche Revolution zu bewirken.
Das Phänomen ist nicht unbekannt. In der Literatur werden solche User*innen „Slacktivists genannt: „Der Begriff Slacktivism, seltener Clicktivism, deutsch etwa Faulpelzaktivismus oder „Sofa-Aktivismus“ bezeichnet eine Form des Aktivismus, welcher ohne besondere Anstrengung und ohne längere Beschäftigung mit dem Gegenstand, zumeist online, nachgegangen wird.“ Das bedeutet: Sharepics in die Story teilen, am besten aufrüttelnde Bilder oder gewaltige Zahlen, andere auf Missstände aufmerksam machen, ohne sich selbst mit dem Pappschild vors Regierungsgebäude zu stellen. Das Reposten von Informationen auf Social Media ist sehr beliebt. Nicht nur hat man das Gefühl mit der eigenen Reichweite Teil etwas größeren zu sein, auch die eigenen Follower*innen wissen nun, dass man ja „politisch aktiv“ sei. Auf den ersten Blick erscheint es, als hätte Gladwell Recht gehabt.
Doch ist der sogenannte „Sofa-Aktivismus“ wirklich so irrelevant für die tatsächlichen Protestbewegungen? Oder hat das Teilen und Liken vielleicht doch einen Sinn? Wenn man sich die Twitterdaten verschiedener Protestbewegungen ansieht, wird deutlich, dass den „Sofa-Aktivist*innen“ eine wichtigere Rolle zukommt, als zunächst angenommen. Eine Analyse eines Retweet-Netzwerkes zeigte das Potential von wiederholter Konfrontation mit demselben Material (also einem Tweet über eine Protestbewegung oder einen Missstand). Dazu wurden User*innen in „Core“ (Zentrum) und „Periphery“ (Rand) aufgeteilt, abhängig davon, wie nah sie am tatsächlichen Protest waren, während der Tweet/Retweet abgesetzt wurde.
Dort zeigte sich: Die User*innen am Rande des Netzwerks waren duetlich weniger aktiv auf einer Pro-Kopf Basis als die User*innen im Zentrum des Netzwerks. Ihre Macht liegt jedoch in ihrer Masse. Entfernt man auch nur den äußersten Rand des Netzwerks, werden nur noch 50% des vorherigen Publikums erreicht. Wenn vorher also 1000 Menschen von der Protestbewegung erfahren haben, sind es jetzt nur noch 500. Damit sind die „Sofa-Aktivist*innen“ zwar weniger aktiv, ihr Anteil am Erfolg der Protestbewegung ist jedoch vergleichbar mit dem der „Core-Members“, also jenen vor Ort.
Malcolm Gladwell schrieb im Jahr 2010, dass die Revolution nicht auf Twitter stattfinden wird. Seitdem hat sich viel geändert. Soziale Medien haben heute einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf politische Teilhabe, insbesondere wenn es um Protestbewegungen geht. Sie vereinfachen den Austausch von Informationen, auch dann wenn die Leitmedien versagen oder von Regimen kontrolliert werden. Sie bieten eine Möglichkeit zur Organisation des Protests, zur Vernetzung und zur Bekanntmachung. Wer weiß, vielleicht wird die Revolution ja doch getwittert.