Sie sind für uns selbstverständlich, sogar unantastbar. Die Menschenrechte als Teil unserer Menschenwürde, als Naturrecht, als universelle und unveräußerliche Freiheits- und Autonomierechte. Der Ausdruck „Menschenrecht“ genügt, dass jeder diesem abstrakten Gedankenkonstrukt eine Bedeutung zuordnen kann. Gleichzeitig bleiben sie Ausdruck einer Utopie, die Idee des idealen Miteinanders und der bedingungslosen Gleichheit.
Der Gedanke der Menschenrechte ist keiner unserer philosophischen Neuzeit und erst recht kein westlicher. Gedankenspiele zu den natürlichen Grundrechten des Menschen oder einer Gruppe von Menschen wurden häufig dann bedeutsam, wenn diese Rechte von entsprechenden Herrschern und Regierungen beschnitten oder auch grob ignoriert wurden – so geschehen 1215 in der Magna Charta, als Schutz der Untertanen gegen die Willkür des englischen Adels, im 18. Jahrhundert in Nordamerika als Reaktion auf übertriebene Steuerforderungen der englischen Krone, in der französischen Revolution oder auch mit dem Grauen der Nationalsozialisten und der Zerstörung durch Atombomben. Die ersten Menschenrechte sind auf einem Tonzylinder von 539 v.Chr. aus Persien dokumentiert, der vermutlich ein Bauteil der babylonischen Mauer war. Auf ihm sind Erlasse vom König Kyros dem Großen festgehalten, deren Bestimmungen den ersten vier Artikeln unserer heutigenAllgemeinen Erklärung der Menschenrechte entspricht. In Afrika wurde im 13. Jahrhundert die Manden-Charta geschrieben, die den Gleichheitsgrundsatz und die Nicht-Diskriminierung etablierte, als bei uns noch finsterstes Mittelalter herrschte und die heute noch als fortschrittlich gilt. Leider war das Prinzip der Egalität häufig bei der Erarbeitung von Menschenrechten den Verfasser:innen nicht präsent, beziehungsweise passte nicht zu deren Lebensumständen. Aristoteles erkannte Bürgern ein Mitbestimmungsrecht am Staat zu, leider galten Frauen, Kinder, Fremde, Sklaven und arbeitende Männer nicht als Bürger. Im biblischen Recht gibt es Sonderregelungen für Völker anderen Glaubens undSklaven und 25 der 55 Delegierten zur Beratung der amerikanischen „besaßen“ zu dem Zeitpunkt Sklav:innen. George Washington trug eine Prothese mit neun Zähnen, die seinen Sklav:innen gezogen wurden.
1947 wurde eine Kommission unter der Leitung Eleanor Roosevelts von der UN beauftragt, unseren aktuelleninternationalen Menschenrechtskodex zu erarbeiten. Dies geschah als Reaktion auf die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. Die 30 Artikel der 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte konnten nicht frei verfasst werden, sondern waren stark politisch durch den Ost-West-Konflikt beeinflusst. Daher ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auch völkerrechtlich nicht bindend, sondern eher ein Ideal oder eine Definition der Menschenrechte. Bereits 1949 kritisierte Hannah Arendt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als „Bemühungen wohlmeinender Bürger […] derer sich nur Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen“. Konkret geht es ihr um Artikel 14, das Asylrecht: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“ Diese Formulierung ignoriert leider die Problematik in einem neuen Land eine Heimat zu finden. Arendt, die selbst als deutsche Jüdin nach Amerika fliehen musste, stellt dem das „Recht, Rechte zu haben“ gegenüber. Ihrer Argumentation folgend werden Menschen ihr Recht geraubt, wenn sie ihren Standort und ihre Gemeinschaft verlieren. Dass Asylsuchende zumindest große Probleme haben, ihr Recht einzufordern, ist in der Flüchtlingskrise offensichtlich geworden.
1966 wurde die Allgemeine Menschenrechtserklärung in zwei Pakte übertragen, umgangssprachlich den UN-Zivilpakt und den UN-Sozialpakt. Die Menschenrechte in zwei Pakte aufzuteilen hatte den offensichtlichen Vorteil, dass ein Land auch nur einen der beiden Pakte unterzeichnet kann. Die USA haben bis heute nicht den UN-Sozialpakt anerkannt. Sobald ein Land den Pakt ratifiziert hat, ist es bindendes Recht. Weitere Rechte sind durch diverse Konventionen geregelt. Regional gibt es häufig noch weitere Verfassungen, beispielsweise die Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2009.
Die Idee der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beruht im Wesentlichen auf den philosophischen Ideen der Aufklärung und obwohl die grundlegenden Ideen daher schon im 17. und 18. Jahrhundert formuliert wurden, konnten wir viele von Ihnen noch nicht verwirklichen. – Artikel 2: „Jeder hat Anspruch auf […] die verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ – Internalisierte Stereotype und Vorurteile sind deutlich schwerer zu bekämpfen als offensichtliche Diskriminierung. – Artikel 23: „ […] Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung […]“. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist in ihrer Einfachheit allgemeingültig und universell, gleichzeitig wird die Ausführung auch durch unsere globalisierten Strukturen zu einer ungeahnten Herausforderung. – Artikel 24: „ Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub.“ – Wie kann unser Begehren nach billigen Wegwerfprodukten über den Rechten von den Menschen stehen, die sie für uns produzieren? – Artikel 28: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“
Nicht nur die Einhaltung unserer Menschenrechte ist weiterhin problematisch, auch die Aktualität. Seit 1948 hat sich durch die Digitalisierung, Robotisierung und die Verbreitung des Internets unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Zusammenleben grundlegend geändert. Sind unsere Rechte vor diesem Hintergrund noch ausreichend? Schützen Sie alle Teilnehmer unserer Gesellschaft? – Artikel 19: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung […].“ – Wir haben heute nie dagewesene Möglichkeiten zur Verbreitung unserer Meinung. Wo endet die Meinungsfreiheit und wann beginnt das Recht auf Wahrheit? – Artikel 29: „Jeder hat das Recht auf Bildung. […] der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.“ – Das umgesetzte Recht auf Bildung offenbart zunehmend die fehlende Chancengleichheit. Wie kann es sein, dass unsere sozioökonomische Herkunft unseren Bildungserfolg entscheidend mitbestimmt? Die Frage ist nicht, ob wir ein Klassismusproblem haben, sondern ob diese Form der Diskriminierung nicht sogar die größten Grenzen in unserer Gesellschaft manifestiert. Und im Angesicht der Digitalisierung und Automatisierung, desDranges zur Selbsterfüllung in einer Zeit, in der sich die Arbeitsgesellschaft in eine Sinngesellschaft wandelt (vgl. R.D. Precht), sollten wir das „Recht auf Arbeit“ nicht besser durch das „Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen“ ersetzen? Der deutsche Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach erachtet unsere Grundrechte ebenso als nicht mehr zeitgemäß und hat daher 2021 sechs Rechte zur Erweiterung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union formuliert:
„ (1) Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. (2) Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten. (3) Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen. (4) Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen. (5) Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden. (6) Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzung dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.“
Vielleicht sollten wir zusätzlich mal darüber nachdenken, ob es Rechte gibt, die dem Menschen nicht zustehen. Wie verhalten sich Menschenrechte gegenüber Tierrechten und der Umwelt? Rechtfertigt unser Hunger nach billigen Fleischprodukten, dass weltweit Milliarden Tiere unnatürlich in Käfigen gehalten und in Fabriken systematisch getötet werden? Vor Beginn des Krieges ernährte die Ukraine durch ihre Getreideexporte weltweit 400 Millionen Menschen. Mit Beginn des Krieges wurden Häfen zerstört und die russische Regierung blockierte die Ausfuhr, eine Hungerepidemie in armen Ländern wurde befürchtet, ein Getreidekorridor verhandelt. Das exportierte Getreide kommt aber nur zu einem geringen Anteil in den hungerbedrohten afrikanischen und asiatischen Ländern an, das meiste geht nach Spanien als Futtermittel für Schweine. Eine weitere Absurdität ist die enorme Ungleichverteilung des Geldes. Darf es Menschen geben, die ein größeres Vermögen haben als das BIP von 139 Staaten unserer Erde, während große Teile der Bevölkerung in den reichsten Ländern der Erde ihre Energierechnung nicht mehr bezahlen können? Wie können wir verhindern, dass diese Menschen zu großen politischen Einfluss ausüben oder nur mit einem Tweet Börsenkurse beeinflussen? Wir erachten die Menschenrechte als naturgegeben und zeitlos, trotzdem spiegeln sie in einigen Punkten die vorherrschenden Lebensumstände und philosophischen Ideen der Zeit wieder, in der sie verfasst wurden. Der Anspruch der Überzeitlichkeit kann Reaktionen auf aktuellen gesellschaftlichen Wandel verhindern und wir erleben mit der digitalen Revolution gerade die größte Umwälzung unseres alltäglichen Lebens seit der industriellen Revolution, sodass eine philosophische und juristische Auseinandersetzung unerlässlich ist.