Geboren mit und ohne Geschlecht?

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Ihre Augen blicken mich an. Groß, dunkel, erschöpft. Das Gesicht, zu einer Grimasse verzehrt. Zähne, fest aufeinander gebissen. Lippen, verzogen. Falten und Furchen auf der Stirn. Das Stöhnen, gepresste Atmen, die unterdrückten Schmerzlaute erfüllen den Raum.

Ihr Fuß stemmt gegen meine Schulter, mit Mühe stemme ich mich dagegen. Ihre Hand zerdrückt meine, ihre Fingernägel werden vermutlich tiefe Spuren auf meiner Haut hinterlassen. Wir atmen im gleichen Tackt. Sie blickt mich tief an, eindringlich. Ich habe das Gefühl, Schuld an ihrem Schmerz zu sein. Ich nicke ihr zu, um ihr zu signalisieren, dass wir jetzt nochmal tief gemeinsam atmen müssen. Das CTG kündigt eine weitere Wehe an, aber dass scheint sie selber zu spüren.

Ich streichele mit meiner freien Hand ihre Wade, die einzige Art unserer Kommunikation, denn verbal sprechen wir nicht die gleiche Sprache. Doch nonverbalen verstehen wir uns alle gut in diesem Raum, wissen was passiert, was die nächsten Schritte sind. Es fühlt sich ganz natürlich an.

Neben mich tritt die Ärztin, die Hebamme hält die andere Hand der Kreisenden und stützt das andere Bein. 4 Frauen. Und dann, einen lautes Stöhnen, Pressen, Drücken, Atmen später, ein lautes Weinen, das weinen eines Neugeborenen. Auf allen Gesichtern zeichnet sich ein müdes und erschöpftes Lächeln. 

Der frisch gebackene Mutter wird das Kind auf die Brust gelegt, die Hebamme schneidet die Nabelschnur durch, ich lege ein Tuch über die beiden. 5 Minuten sind in diesem Raum 5 glückliche Menschen, froh darüber, dass alles gut geklappt hat. Ein neues Kind auf dieser Erde, die Zeit schein still zu stehen.

Ein Kind.

Wo der Vater ist, weiß niemand. Wo und wie die 23 jährige Mutter ihren Alltag bestreitet, weiß niemand. Welche Sprache sie eigentlich spricht und verstehen würde, weiß niemand. „Girl?“, fragt die junge Mutter dann leise in die Stille hinein. Die Hebamme nickt. „Untersuchen, Looking“, sagt sie zu der jungen Mutter und nimmt das Kind auf den Arm.

Ein Mädchen.

Ich folge ihr zum Wickeltisch auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes und lasse mir erklären, worauf man alles achten muss. Nicke und versuche mir so viel es geht zu merken. „Sie hat ziemlich große Schamlippen, oder?“, flüstert leise die Hebamme. „War das nicht wegen dem Östrogen der Mutter oder so?“, Murmel ich, während die Hebamme die Schamlippen betastete. Sie nimmt meine Hand und legt sie darauf, so, dass ich auch fühlen kann. „Das sind Hoden“, sagt sie.

Ein Junge.

Mit einem strahlenden Lächeln dreht sie sich zu der jungen Mutter um. „Baby – Doctor – Looking – Untersuchung“, und mit schnellem Schritt eilt sie Richtung Ausgang. Ich lächle der jungen Mutter zu, nicke zum Zeichen das alles gut ist. Ihr lächeln, mit dem sie meins erwidert ist besorgt, ihre Augen wirken verängstigt. Doch ich folge der Hebamme. Der Kinderarzt, der das Neugeborene untersucht, bestätigt mit einem Ultraschall den Verdacht der Hebamme. Aber auch einen Uterus, eventuell blind endend, meint er zu sehen.

Ein Kind, mit unklarem Geschlecht.

„Und jetzt?“, frage ich ihn. Er blickt von der Patientinnenakte der Mutter auf. „Ich werde mit ihr reden. Doch bei dem sozialen Hintergrund und der kulturellen Prägung, wird das Kind nicht intergeschlechtlich aufwachsen und mit 13 Jahren selbst über sein Geschlecht entscheiden.“.Damit geht er, mit dem Baby auf dem Arm, zurück in das Kreissaal-Zimmer der Mutter. Ich setzte mich zum Hebammenstützpunkt. Eine halbe Stunde später kommt der Arzt, ohne Baby, wieder aus dem Zimmer.

Ein Mädchen.

Wochen später stehe ich im OP und mache mich steril. Die Handschuhe sind etwas widerspenstig. Auf dem OP-Tisch ein 33 jähriger Mann. Geplante OP: Penoidplastik bei Geschlechtsangleichung von Frau zu Mann. Ich bin beeindruckt, was Hormone mit einem Körper machen. Bauchbehaarung, Bartwachstum, nur die Finger sehen noch weiblich aus. Über die sozialen Medien hab ich schon mal was zu Geschlechtsangleichenden OPs gehört und gelesen. Doch, was wirklich dahinter steckt war mir so nicht bewusst. Der Chirurg tritt neben mich, während eine Schwester unsere Kittel von hinten verschließt.

Mit dem Kopf weißt er auf die Brust des Patienten: „Die Mastektomie (Brustentfernung) hat schon statt gefunden, genauso wie die Entfernung der inneren weiblichen Geschlechtsorgane, also Gebärmutter und Eierstöcke. Die Vagina ist mit einer Laser-Ablatio entfernt worden, bei der man zeitgleich eine Ureterplastik (Erhalt der Harnröhre) gemacht hat.“ 3 OPs unter Vollnarkose mit stationärem Aufenthalt, jedesmal Risiken die Gesundheit des Patienten.

„Wir machen heute die Penoidplastik (Penisaufbau) mit der Haut vom Unterarm, die Wunde dort decken wir mit der Spalthaut (sehr dünne Haut/nur oberste Hautschicht) vom Oberschenkel.“ 4 OPs unter Vollnarkose mit stationärem Aufenthalt, jedesmal Risiken die Gesundheit des Patienten.

„Und dann bekommt er irgendwann noch die Erektions-Pumpe eingebaut, eine Hoden-Plastik und die Glans-Plastik.“ 5-7 OPs unter Vollnarkose mit stationärem Aufenthalt, jedesmal Risiken die Gesundheit des Patienten.

Die Operation dauert 7,5h, verläuft ohne Komplikationen und das Ergebnis ist beeindruckend. Doch bei der Wundversorgung blicke ich auf all die Narben. Wie groß müssen die inneren Narben sein, so viele Eingriffe und Schmerzen über sich ergehen zu lassen, um sich mehr in seinem eigenen Körper zu Hause zu fühlen. Aber Schmerzen können vergänglich sein. Sie können behandelt und gelindert werden.

Ich denke an das Neugeborene, es hat nicht selber entscheiden können, welches Geschlecht es haben möchte. Ich ertappe mich wie ich denke: „Aber das ist ja was anderes, das kann ich verstehen. Da finde ich es gerechtfertigter, sollte es sich für solche Eingriffe entscheiden. Aber dieser Mann. So viele Stunden blockiert er den OP, so viele Tage ein Bett auf Station, das vielleicht ein Verbrennugsopfer viel dringlicher bräuchte.“

Noch im gleichen Moment schäme ich mich für meinen Gedanken. Ich denke an meine Famulatur auf der Psychiatrie zurück, die 67 jährige Frau, deren Sohn sich das Leben nahm, weil er sich nie zu Hause fühlte. In seinem männlichen Körper. In dem Männlichkeitsbild, das  Familie und Gesellschaft von ihm, aufgrund seines biologischen Geschlechts, erwarteten.

Ich erinnere mich an einen der obersten Grundsätze der Medizin: Wir behandeln jeden unabhängig von Kultur, Geschlecht, Religion, Herkunft und Gesinnung. Wir sind nicht dazu da zu werten und zu urteilen, das liegt nicht in unserem Aufgabenfeld. Wir behandeln nach den besten medizinischen Standards und persönlichen Handlungsmöglichkeiten.

Kaum zu einer Zeit war der Begriff „Geschlecht“ so fluide, wie zu unserer. Ob dem biologischen entsprechend oder gar keins, am Ende ist das einzige was zählt, dass sich jeder glücklich ist. Doch was ist mit den Vorwürfen, dass die Auflagen zu hoch sind, die Gutachten in ihrer Zahl zu viele und die psychiatrischen Ärzte zu viel Steine in den Weg legen, wenn es darum geht, bei Transidentität eine Geschlechtsangleichung zu bekommen?

In der Tat erleben viele Psychiater:innen die ganze Geschlechtsidentität-Trans-Bewegung, gerade in den aktuell jugendlichen Generationen, wie einen Trend. Trans ist nicht immer die einzige und richtige Diagnose, erzählten mir Psychiater:innen während meiner Famulatur. Es hat nichts mit Transphobie zu tun, dass einige Menschen nicht eine Transidentität bestätigt bekommen. Denn diese kann erst beim Ausschluss von anderen psychiatrischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Persönlichkeitsstörungen oder Borderlinestörungen, bestätigt werden.

Durch die sozialen Medien wird immer mehr das Konstrukt „Geschlecht“ in Frage gestellt, was nichts schlechtes ist. Doch am Ende des Tages ist es wichtig, bei medizinischen Diagnosen genau hinzu schauen, zu differenzieren und im Zweifel auch der Meinung der Patient_innen zu widersprechen. Ich weiß noch genau, wie ich das nicht ganz nachvollziehen konnte, als ich damals darüber mit den Psychiaterinnen sprach. Doch nach meiner Zeit im OP, seit ich gesehen habe, was der begriff „Geschlechtsangleichende-OP“ bedeutet und mit sich bringt, verstehe ich die Argumente mehr.

Es geht nicht darum, sich den Patient_innen in den Weg zu stellen, ihnen zu verbieten über ihren eigenen Körper zu entscheiden. Es geht darum zum, Wohle der Patient_innen zu handeln. Doch dieses Wohl wird schon viel früher, als vorm ersten Arztbesuch, gefährdet. Denn zu oft, entscheiden andere, zum Beispiel die, die uns am meisten lieben, wer und was wir sein sollen. Und es ist für viele ein täglicher Kampf, sich selber zu finden und von aufgelegten Bildern und Stereotypen zu lösen.

Es liegt an uns, zuzuhören und zu fragen wer oder was jemand sein will und wenn die Person es nicht nicht weiß, darauf noch nicht antworten kann, ihr auf ihrem Weg zu helfen, zu ihrem Wohl, aber nicht unbedingt nach ihrem Willen, zu unterstützen.

Es wurde kein Mädchen geboren, eine Frau operiert und kein Mann nahm sich das leben. Am Ende wurde ein Kind geboren, ein Mann operiert und ein Mensch, der sich seines Geschlechts nicht sicher war, nahm sich das Leben.

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