Lav Diaz
Wie bereits das Filmfest in Hamburg vor einem halben Jahr hat mir vor gut einem Monat die Berlinale eine Woche sprachlosen Eindrucks, schaudernder Berührung und ansteckender Hoffnung geschenkt. Ende Februar startete das Berliner Filmfestival in die 73. Runde. Für mich war es die erste aber definitiv nicht die letzte. Fernab vom Blitzlichtgewitter am roten Teppich haben die Filmfestspiele abseits des Mainstream so viel mehr zu bieten als die üblichen Hollywood Produktionen. In ganz unterschiedlichen Filmen sehe ich mich konfrontiert mit dennoch in sehr ähnlicher Weise ergreifenden Fragen.
Transfariana
Mit dieser auf besondere Art poetisch-politischen Dokumentation hat die Woche für mich begonnen. Die Kamera folgt den grün bewaldeten Abhängen von Kolumbiens Wäldern. Dann springt sie förmlich in das Gefängnis La Picota in Bogotá. Erst später scheinen die Szenen eins zu werden. Der Regisseur Joris Lachaise verblendet geschickt die Transformationssymbolik der Natur Kolumbiens – seiner sich stetig wandelnden Wälder – mit der politischen Transformation die das Land erfasst.
Vor der kahlen Wand des Gefängnisses erzählt die Hauptdarstellerin Laura Katalina Zamora, dass sie unrechtmäßig wegen kleinerer Vergehen während ihrer Arbeit als Prostitutierte, vor allem aber wegen ihrer Identität als Transgender-Frau zu sechzig Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Aus dem Gefängnis heraus kämpft sie für die Rechte der LGBTIQ + -Community, Seite an Seite mit dem inhaftierten FARC-Kämpfer Jaison Murillo. Ihre Liebesbeziehung löst Misstrauen innerhalb der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, der sozialrevolutionären Guerillabewegung aus, die Jaison zunächst auszuschließen versucht. Die Kamera begleitet die politische Transition der Bewegung und wie ihre Visionen sich mit denen der Trans-Aktivist:innen verblenden. Auf Demos im Rotlichviertel Bogotás, hinter den Gittern von La Picota, und beim gemeinschaftlichem Kochen und Tanz in den Camps in den Bergen fängt Lachaise intime Momente der Freundschaften und Beziehungen der Aktivist:innen ein ohne ihre Identitäten zu exotisieren. Zwischen verlorener Revolution, neuen Hoffnungen und geteilten Visionen skizziert der Film Räume endloser Solidarität für die die Transfarianas (die weiblichen FARC-Mitglieder nennen sich Farianas) unermüdlich kämpfen.
Daniela Maldonado (Aktivistin und Gründerin des Netzwerk Red Comunitaria Trans
I heard it through the grapevine
Von den Straßen Kolumbiens in das Archiv der USA – und trotzdem fühlt sich dieser Film von 1982 aktueller an denn je. Zwei Jahrzehnte nach der Bürgerrechtsbewegung begleitet Dick Fontaine James Baldwin an die Orte, die wie leckende Wunden an die Geschichte und Realität rassistischer Gewalt in den Vereinigten Staaten erinnern. Dabei fühlt sich der Film keineswegs an wie eine Reise in die Vergangenheit, sondern fängt die schmerzende Resignation ein über die anhaltende systematische Gewalt gegenüber der Schwarzen Bevölkerung die so unermüdlich für ihre Rechte kämpft gegen ein System, in dem jede Bemühung zerschlagen zu werden scheint. Baldwin spricht über enttäuschte Hoffnung und gesteht nüchtern „we fought so hard for the vote only to realize that there was nobody we could vote for“.
Fontaine verwebt Archivmaterial mit Systemkritik und kreiert einen ergreifenden Film, der die Vergangenheit in Dialog bringt mit Baldwins Generation von Bürgerrechtler:innen und Schriftsteller:innen wie Baraka und Achebe. Die Kamera gerichtet auf die Wellen des Atlantik, die rauschend an den Strand rollen, richten Baldwin und Achebe den Blick auf ihr eigenes Vermächtnis und einen Ozean, über den über 12 Millionen Menschen verschleppt und anschließend versklavt wurden.
Sages-femmes und Notre corps
Zwei ganz andere Filme die beide auf berührende Weise die Kamera auf den menschlichen Körper richten. Sages-femmes beginnt hektisch, Sirenen heulen schrill auf, Türen knallen laut und die Kamera folgt hastig den Hebammen durch die Entbindungsstation. Zwei Freundinnen starten gemeinsam ihren ersten Tag im neuen Krankenhaus. Léa Fehner kreiert einen Film in Echtzeit, der mich keine Sekunde der Leinwand entkommen lässt. Die Spannung der Entbindungsstation erfasst förmlich den Kinosaal. Der Film fängt intime Momente im Kreissaal und Schwesternzimmer ein, wo alle in diesem so unverzichtbaren Job körperlich und emotional ans Limit gehen. Feinfühlig und niemals voyeuristisch begleitet die Kamera die Hebammen und wird dabei politisch. Sie zeigt die katastrophalen Folgen eines bis auf den letzten Cent heruntergesparten Gesundheitssystems das trotz des unfassbaren Einsatzes des Personals jeden Moment zusammen zu brechen droht. Das schnelle Tempo des Films vermittelt diese konstante Überspannung unter der die Frauen Entscheidungen über Leben und Tod von Müttern und Kindern treffen, die nicht immer gut ausgehen. Die Spannung entlädt sich schließlich in den unüberhörbaren Protesten der Belegschaft auf den Straßen von Paris.
Von denen geht es im Film Notre Corps wieder zurück in eine gynäkologische Klinik in der Stadt. Mit einem Blick für das kleinste Detail widmet sich Claire Simon drei Stunden dem weiblichen Körper. Anders als Sages-femmes lebt der Film von den Momenten, an denen die Szenen schmerzhaft langsam zu werden scheinen und lässt mich das Unbehagen aussitzen, das mit der Frage einhergeht, was es bedeutet in einem weiblichen Körper zu leben. Welche Beziehung haben wir zu unseren Körpern? Fragen, die ich mir zu selten stelle, die genau aus diesem Grund ein Gefühl von Befremdung auslösen aber mit denen der Film wahnsinnig behutsam umgeht.
Die Kamera ist von hinten auf eine junge Frau gerichtet, die einer Ärztin erzählt, wie sie schwanger wurde und mit welcher Entscheidung sie hadert. Notre Corps beginnt unmittelbar und fängt Szenen ein, die sich unbehaglich intim anfühlen. Der Film beweist, was das Genre leisten kann, nämlich dass Dokumentationen berührend persönlich und zugleich unaufgeregt nüchtern sein können. Fehner und Simon bündeln Erfahrungen von Frauen, die es in unser männerdominierten Welt selten auf die Leinwand schaffen und richten die Kamera auf Strukturen, innerhalb derer über Leben und Tod entschieden wird – wo medizinisches Personal jeden Tag, jede Stunde Unverzichtbares vollbringt.
Als einer der letzten Filme die ich schaue scheint 20.000 species of bees so viele Impressionen, Töne und Fragen meiner Woche in Berlin zu bündeln. Was als Suche nach dem „richtigen“ Namen beginnt, ist viel mehr eine Skizze, die Fragen und Herausforderungen, vor denen junge Menschen auf der Suche nach Selbstbestimmung stehen, zeichnet. Die achtjährige Lucía fühlt sich nicht wohl, von ihrer Familie beim Geburtsnamen Aitor genannt zu werden. Der Sommerurlaub im Baskenland ist bestimmt von Fragen, die außer ihrer Großtante kaum jemand ernst zu nehmen scheint. Wunderbar einfühlsam folgt die Kamera dem jungen Mädchen, gespielt von der neunjährigen Sofía Otero, wie sie mit ihrer Tante, einer Imkerin, durch die satten Wiesen Nordspaniens zu den Bienenstöcken streift. In diesen Momenten beginnt der Kinosaal förmlich zu summen. Nur ihrer Großtante kann sich Lucía wirklich anvertrauen.
20.000 species of bees
Estíbaliz Urresola Solaguren fängt die Geschichte ein, die eine von so vielen jungen Menschen ist, verleitet den Film zu drehen nach dem Suizid eines Transjungen im Baskenland, wie sie im anschließenden Interview sagt. Sie schafft mit dem bemerkenswert einfühlsamen Werk ebenso einen Raum für Fragen, die sich Familien stellen. Wie geht eine Mutter, die selbst noch mit elterlichen Altlasten zu ringen scheint, mit der Identitätssuche ihres Kindes um? Warum scheint der kaum anwesende Vater die Fragen seines Kindes nur in der Verborgenheit der eigenen vier Wände zu dulden? Und welch befreiend einfache Antworten finden gleichzeitig die Geschwister?
Paul Seidel
In der unaufdringlichen Symbolik der Bienen und der Wachsfiguren, die die Mutter als Teil ihrer Arbeit als Künstlerin schafft, spiegelt 20.000 species of bees, dass Geschlechteridentität so unerhört komplex ist und die vielen damit einhergehende Fragen darüber wer wir sind und wer das eigentlich bestimmt, die alle wie ein Echo im Summen der Natur resonieren. Lav Diaz sagt in einem Interview über seinen 2016 erschienen Film und seine Arbeit „silence is denying the truth“ und Kino ist ein Medium dies zu brechen. 20.000 species of bees bricht mit dem Schweigen über ein Thema, für dass es bisher kaum einen Raum zu geben scheint. Wie ein Bienenstock scheint jede einzelne Szene zu summen.
Lav Diaz