Von der Mistgabel zur Maus – eine kurze Geschichte des politischen Protests

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Zu wenige Ressourcen zum Überleben, zu viel Gewalt, zu wenig Freiheit – Die Probleme der Menschheit sind so alt wie die Menschheit selbst. Der Moment, ab dem Menschen anfingen, ihre Gemeinschaft, seine Ziele und die Lösungswege dorthin zu organisieren, ist die Geburtsstunde der Politik. Und ganz egal ob Demokratie oder Diktatur, um Entscheidungen effizient treffen zu können, ist eine Zuweisung der Herrschaft auf Wenige nötig. Damit einher geht zwangsläufig, dass nicht alle Betroffenen mit diesen Entscheidungen einverstanden sein können. Und somit ist auch der politische Protest so alt wie die Politik.

In den frühen Stammesfürstentümern der menschlichen Zivilisation entschied meist nur das Recht des Stärkeren darüber, ob man Herrscher oder Untertan sei. Politischer Widerstand drückte sich vermutlich vor allem durch Waffengewalt aus. Erfolgreicher Widerstand endete dabei meist mit dem Tod des Herrscher, erfolgloser Widerstand mit dem Tod der Widerständler. In der Politikwissenschaft unterscheidet man grundsätzlich zwischen zwei Arten des politischen Widerstands: Dem, bei welchem das konkrete Handeln eines Herrschers beeinflusst werden soll und dem, bei welchem der Herrscher von seiner Macht grundsätzlich abgesetzt werden soll. Diese beiden Formen des Widerstandes stehen sich diametral gegenüber. Wird die Absetzung eines Herrschers oder Herrschaftssystems gefordert, so wird dessen gesamte Machtlegitimation verneint. Im Gegensatz dazu kann ein Protest, welcher beispielsweise lediglich gegen die Einführung eines Gesetzes Widerstand leistet, die Legitimation eines Herrschers sogar verstärken. Denn er beweist, dass die Machtposition des Herrschenden trotz partieller Unzufriedenheit nicht weiter in Frage steht.

Doch die meiste Zeit über waren Widerstand und Protest per Definition außerhalb der politischen Normalität. Anders als in unserem modernen Demokratieverständnis galt Protest über weite Teile der Geschichte als Angriff auf das System und wurde meist mit entsprechender Gegenwehr beantwortet. So wurden Aufstände in der Regel entweder blutig niedergeschlagen, oder sie entwickelten sich zu Bürgerkriegen. Erfolgreiche Widerstände wurden in der Folge häufig als Revolution verstanden, weil die Herrschaft durch eine neue ersetzten.

Die Geschichte des Protests im politischen Alltag ist deshalb verhältnismäßig jung und begründet sich insbesondere in der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Diese sind auch in Europa ein historisch betrachtet neues Privileg. Die erste schriftliche Vebriefung dieser Rechte für das allgemeine Volk, gemeint sind allerdings immer nur Männer, regelte 1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich. Im Schatten der Französischen Revolution und im Widerstand gegen die absolutistische Monarchie Ludwigs XVI hielt die neu gegründete Nationalversammlung es für notwendig, dem selbsterklärten Staat eine erste Verfassung zu geben und dabei auch das Recht auf Protest festzuschreiben. Redefreiheit war zuvor nur in der englischen Bill of Rights festgelegt worden – sie regelte aber nur das britische Verhältnis zwischen Parlament und Krone und galt damit nicht für die allgemeine Bevölkerung. Zwei Jahre nach der französischen Nationalversammlung nahmen auch die US-amerikanischen Bundesstaaten die Rede- und Versammlungsfreiheit als ersten Zusatzartikel in die Verfassung der Vereinigten Staaten mit auf.

Der Beginn der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland lässt sich weniger eindeutig datieren. Wie so oft in der deutschen Geschichte liegt dies an der Kleinteiligkeit der deutschen Herrschaftsgebiete. In der Regel waren die ersten Gleichheitsrechte, auch in diesen Fällen nur für Männer, in den weiter monarchisch geprängten postnapoleonischen Herrschaftsräumen des heutigen Deutschlands die Steuergleichheit und die Militärdienstpflicht – also Gleichheiten, die insbeondere der Obrigkeit nutzten.

1848 trat in der Frankfurter Paulskirche erstmals eine Versammlung zusammen, welche eine Verfassung für ganz Deutschland festlegen wollte. Die Verfassung sah einen gemiensamen demokratischen Staat vor. In ihr sind, neben Presse- und Religionsfreiheit auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit festgelegt. Allerdings verhinderten Macht und Einfluss der deutschen Monarchen eine Einführung und vereinzelte Bürgerrechte wurden weiter in den jeweiligen Teilgebieten bestimmt. Insbesondere durch die Etablierung von Grundrechten in anderen europäischen Staaten und den USA hatten bis 1867 aber die meisten deutschen Herrscher mehr oder weniger umfassende Rechte für die Zivilbevölkerung eingeführt. In der Bismarckschen Verfassung von 1871 spielten Bürgerrechte jedoch kaum eine Rolle. Aus Angst vor langen Verhandlungen und mit Blick auf die in den Teilstaaten bereits garantierten Rechte, wurden nur wenige allgemeine Grundrechte eingeführt, etwa der Schutz deutscher Bürger im Ausland oder die freie Wahl des Wohnortes innerhalb des neu gegründeten Reichsgebiets.

Die erste nationale und allgemein durchgesetzte Verfassung in Deutschland, welche die Meinungs- und Versammlungsfreiheit verbriefte war die Weimarer Verfassung von 1919 – 130 Jahre nach der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich.
In Artikel 118 heißt es:

„Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen
Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei
zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hin-
dern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch
macht.
Eine Zensur findet nicht statt […].“

Art. 118, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919

Die Versammlungsfreiheit ist in Artikel 123 geregelt:

„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere
Erlaubnis zu versammeln.
Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig
gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden.“

Art. 123, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919

Inbesondere die Klausel zur Versammlungsfreiheit wurde fast wortgleich in das Grundgesetz der Bundesrepublik übernommen. Leidglich der Hinweis, dass etwaige Versammlungen auch friedlich und ohne Waffen stattfinden müssen, wurde dem Grundgesetz hinzugefügt. Sowohl Meinungs- als auch Versammlungsfreiheit waren unter der NS-Herrschaft aber natürlich stark unterdrückt, beziehungsweise nicht existent.

Die Bedeutung dieser Rechte für eine moderne Demokratie liegen auf der Hand und sollten trotzdem nicht unterschätzt werden. Politische Proteste sind Teil der öffentlichen Meinungsbildung, des Diskurses und der Kontrolle der Mandatsträger. Widerstand gegen einzelne Gesetzesvorhaben oder auch gegen gesellschaftliche Entwicklungen gehören mittlerweile zur politischen Normalität. In westlichen Demokratien sind Widerstände mit dem Ziel, die politische Herrschaft abzusetzen zwar äußerst selten geworden, verschwunden sind sie jedoch nicht. Das bedeutendste Beispiel in der jüngeren Geschichte dürfte der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 sein. Tausende Anhänger Donald Trumps versuchten die bestehenden Herrschaftsstrukturen, in diesem Fall den Senat und dem damaligen US-Vizepräsident Mike Pence, gewaltsam abzusetzen. Auch das Narrativ der sogenannten Reichsbürger und Q-Anon Anhänger beim Sturm auf das Reichstagsgebäude im August 2020 kommt diesen Gedanken gefährlich nahe.

Auch wenn friedlicher und gemäßigter Protest heute zum politischen Alltag gehört – es wäre gefährlich die Augen vor ihm zu verschließen. Denn auch wenn dieser Protest heute sekündlich in digitaler Form auf Plattformen wie Facebook oder X (vormalig Twitter) stattfindet, so stecken hinter ihm meist reale Probleme und Forderungen. Eine Meinungs- oder Versammlungsfreiheit ist irrelelvant, wenn sie keine Macht mehr bekommt.

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