Der Mann und der Bär

Gepostet von

Ein Kommentar zu gender-basierter Gewalt

Die meisten dürften bereits von der Frage gehört haben, deren Diskurs aktuell das Internet dominiert. Auf Social Media sieht man sie überall: Frauen, die gefragt werden, ob sie in einem einsamen Waldstück lieber auf einen Mann oder auf einen Bären treffen würden. Und Männer, die sich über die Wahl der Frauen echauffieren. Denn, Überraschung, sie haben diese Wahl nicht gewonnen. Fast alle Frauen wählen den Bären, viele, ohne zu zögern. Und diejenigen, die sich für den Mann entscheiden, fragen immer erst nach. Um welchen Bären handelt es sich? Ein kleiner Schwarzbär oder doch ein gewaltiger Braunbär?

Dabei sollte die Antwort doch eine andere sein. Warum entscheiden sich so viele Frauen für den Bären, ein Raubtier mit Reißzähnen und tödlichen Klauen? Auch ich habe mir die Frage gestellt. Mann oder Bär? Mann oder Bär? Ich möchte gerne den Mann wählen, wirklich, aber ich habe das Gefühl, dass ich mit einem Bären sicherer wäre. Und diese Erkenntnis ist leider keine Neue.

Gender-basierte Gewalt begleitet jede Frau jeden Tag bei jedem Schritt. Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau in Deutschland durch ihren Partner oder Ex-Partner. Bei diesen Femiziden geht es meist um die Verteidigung einer überlegenen Stellung, um Macht, Kontrolle und Besitzansprüche. Zudem wurden im Jahr 2023 in Deutschland pro 100.000 Einwohner 14,4 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellem Übergriff im besonders schweren Fall polizeilich erfasst. Die Dunkelziffer dieser Verbrechen ist enorm, denn meistens wird sexualisierte Gewalt von den Opfern nicht angezeigt – zu groß ist die Angst vor Victim Blaming und die damit verbundene Scham.

Es ist eine einfache, hypothetische Frage, der es jedoch gelingt, den Finger etwas zu präzise in die Wunde zu drücken. Sie ist eine schmerzhafte Erinnerung an die Epidemie männlicher Gewalt gegen Mädchen, Frauen und weiblich gelesene Personen. „Wenn ich sage, ich wurde von einem Bären attackiert, würde mir jeder glauben und niemand würde mich fragen, was für Kleidung trug oder wie viel ich getrunken habe“, kommentiert eine Frau auf Social Media. Fragen, die nach einem sexuellen Übergriff leider durchaus ernsthaft gestellt werden.

Die Reaktion der männlichen User könnte ernüchternder nicht sein. Die Entscheidungen der Frauen werden in Frage gestellt oder lächerlich gemacht. Woraufhin die Userin simplyjennifer auf X antwortete: „Männer, das ist eine hypothetische Frage und ihr akzeptiert immer noch kein Nein.“ Die Tatsache, dass so viele Männer nicht zuhören wollen, wenn Frauen erklären, warum sie den Bären wählen, sie nicht ernst nehmen, ihnen ihre Gefühle absprechen und sie stattdessen erstmal belehren, wie unwahrscheinlich es sei, eine Bärenattacke zu überleben, beweist eindrucksvoll, warum die Wahl so oft auf den Bären fällt.

Dabei sind die Kommentare unter den Videos zur Bärenfrage herzzerreißend: „Wenn ich eine Bärenattacke überleben würde, müsste ich den Bären nicht auf Familientreffen wiedersehen.“ „Niemand wird sagen, dass ich die Bärenattacke doch gemocht habe.“ „Ein Bär würde es nicht filmen und es an alle seine Freunde schicken.“ „Ihr realisiert nicht, dass es Schicksale gibt, die schlimmer sind als der Tod.“

Als Gruppe bieten Männer eine deutlich größere Gefahr für Frauen und weiblich gelesene Menschen, als die Bären. Auch, wenn das Gedankenexperiment natürlich fehlerhaft ist, da wir eben nicht mit Bären auf so dichtem Raum zusammen leben wie mit Männern, zeigt es auf, dass ein Mann in einem Waldstück für viele Frauen eine reale Bedrohung ist. Und dabei ist es egal, dass nicht jeder Mann eine Frau angreifen und sexuell missbrauchen würde. Die Rechtfertigung Not All Men (Nicht alle Männer) ist im Internet aktuell mindestens genauso prominent wie die Bärenfrage. Allerdings ist sie vollkommen irrelevant. Natürlich wissen wir, dass nicht alle Männer gewalttätig sind. Aber es sind genug Männer, dass wir uns trotzdem fürchten müssen. Dass wir nachts nur in Gruppen unterwegs sind, das Uber vermeiden, die Parks, die Treppen. Dass wir unsere Körper bedecken (ich erinnere da nur gerne an das Thema U-Bahn-Shirt) und fanatisch unsere Drinks bewachen, als handle es sich dabei um Rohdiamanten. Es handhabt sich ganz ähnlich wie mit Zecken. Natürlich wissen wir, dass nicht alle Zecken Borreliose übertragen. Aber da wir nicht wissen, welche Zecke infiziert ist und welche nicht, müssen wir jeden Zeckenbiss vermeiden.

Anstatt sich mit Ausreden wie Not All Men aus der Verantwortung zu ziehen, sollten Männer lieber innehalten und überlegen, was sie selbst tun können. Denn irgendwie scheint männliche Gewalt immer noch ein Frauenthema zu sein. Anstatt, dass Männer Frauen einfach nicht vergewaltigen, müssen Frauen hundert Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und sich in ihrem Leben einschränken. In meinen Augen hat jemand, der es noch nicht einmal schafft, misogynes Verhalten unter seinen Freunden zu benennen und zu unterbinden, kein Recht, sich darüber zu beschweren, wenn die Wahl auf den Bären fällt. Wenn mehr Männer wirklich etwas dafür tun würden, gender-basierte Gewalt zu beenden, dann würden sie die Wahl vielleicht auch irgendwann gewinnen. Denn sind wir mal ehrlich. So süß kleine Bärenbabys auch sind, mit einem ausgewachsenen Exemplar wollen wir trotzdem nicht gern allein im Wald sein.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..