Der Hannoversche Bahnhof – Im Kampf gegen die Geschichtsamnesie in der Hamburger HafenCity

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Kommentar

Bildquelle: Pauli-Pirat, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

All wars are fought twice, the first time on the battlefield, the second time in memory […] The problem of war and memory is therefore first and foremost about how to remember the dead, who cannot speak for themselves. Their unnerving silence compels the living – tainted, perhaps, by a touch or more of survivor´s guilt – to speak for them.

(Eigene Übersetzung: Alle Kriege werden zweimal geführt, das erste Mal auf dem Schlachtfeld, das zweite Mal in der Erinnerung […] Das Problem des Krieges und der Erinnerung besteht also in erster Linie darin, wie man sich an die Toten erinnert, die nicht für sich selbst sprechen können. Ihr nervtötendes Schweigen zwingt die Lebenden – vielleicht mit einem Hauch oder mehr eigener Schuldgefühle behaftet.)

Viet Thanh Nguyen, „Nothing ever dies“

Vor zwei Wochen war ich bei einem geführten Rundgang am denk.mal Hannoverscher Bahnhof, ein zunächst unauffälliger Gedenkort inmitten der geschniegelten Fassaden der Hafencity. Zwischen hohen Bürotürmen und sterilen Asphalttreppen befindet sich der Lohseplatz, den ich bisher nur als Ort kannte um mich mit Freund:innen im Sommer auf ein Bier zu treffen und die Hafenkulisse zu genießen. Nach dem Rundgang ist mir etwas unwohl das zu schreiben. Von 1940 bis 1945 wurden mehr als 8.000 Jüd:innen sowie Sinti:ze und Rom:nja vom Hannoverschen Bahnhof (denn die Strecke führte nach Hannover) von Hamburg aus deportiert. Sie kamen in Konzentrations- und Vernichtungslager in die Deutsch besetzten Gebiete nach Belzec, Litzmannstadt/Lodz, Minsk, Riga, Auschwitz und Theresienstadt, wird uns erklärt. Überlebt haben nur die wenigsten von ihnen.

Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde der Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja während des Holocausts für Jahrzehnte aus dem öffentlichen Bewusstsein und der historischen Erinnerung verdrängt. In der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland gab es kaum politische noch juristische Bemühungen, das Verbrechen aufzuarbeiten. Im Gegenteil konnten viele ehemalige Täter:innen ungehindert in Behörden oder der Wirtschaft Karriere machen. Die wenigen Überlebenden, die physisch und psychisch durch Verfolgung und Lagerhaft gezeichnet waren, wurden vom deutschen Staat sowohl moralisch als auch rechtlich und finanziell im Stich gelassen. Die Anerkennung ihres Leidens und eine angemessene Entschädigung wurden verweigert. Nicht nur in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft wurde der Völkermord an Sinti:ze und Rom:nja ignoriert, sondern auch an den historischen Stätten des Verbrechens, den Gedenkstätten und Mahnmalen. Die Entstehungsgeschichte des Denkmals Hannoverscher Bahnhof ist Beweis der Geschichtsamnesie, die die Planung und das Stadtbild der Hamburger HafenCity prägt.

Die Entstehungsgeschichte des Ortes schockierte mich besonders. Auf Initiative von Überlebenden und Nachfahren der Verfolgten sowie der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte hin sicherte die Stadt Hamburg der Initiative eine Räumlichkeit für ein Dokumentationszentrum am heutigen Lohsepark zu. Bisher erinnern 20 Tafeln namentlich an mehr als 8000 Jüd:innen sowie Sinti:ze und Rom:nja sowie ein kleiner Informationspavillon und eine Tafel am südlichen Eingang des Parks. Die Stadt sicherte bereits 2012 der Initiative im Erdgeschoss eines großen Bürogebäudes am Lohsepark 4 ein Informationszentrum zu, der Vorschlag stieß jedoch auf herben Widerstand der Betroffenen, da im selben Gebäude das Öl- und Gasunternehmen Wintershall Dae sitzt. Dea wurde in der NS-Zeit zum wichtigsten Lieferanten der Kriegsmarine und machte Profite mit Zwangsarbeit. Zur Ausbeutung von Ölvorkommen im heutigen Polen setzte der Konzern zehntausende Zwangsarbeiter:innen ein. Sie profierte somit insgesamt enorm von der nationalsozialistischen Aufrüstungs- und Autarkiepolitik. Natürlich kam die Errichtung des geplanten Zentrums im selben Gebäude für die Betroffenen nicht in Frage. Die Stadt vergab das Erdgeschoss daraufhin an das Luxusrestaurant CLAAS, bei dem Gäst:innen für happige 42€ ihre Trüffelspaghetti genießen können. Etwas ab vom Park soll nun bis frühestens 2026 ein kleines Ersatzgebäude für die Initiative entstehen.

We forget despite our best efforts, and we also forget because powerful interests often actively suppress memory, creating what Milan Kundera calls „the desert of organized forgetting.“ In this desert, memory is as important as water, for memory is a strategic resource in the struggle for power.

(Eigene Übersetzung: Wir vergessen, obwohl wir uns bemühen, und wir vergessen auch, weil mächtige Interessen die Erinnerung oft aktiv unterdrücken und laut Milan Kundera die „Wüste des organisierten Vergessens“ entsteht. In dieser Wüste ist die Erinnerung so wichtig wie Wasser, denn die Erinnerung ist eine strategische Ressource im Kampf um Macht.)

Viet Thanh Nguyen, „Nothing ever dies“

Zum Kampf gegen das Vergessen gehört auch die Erkenntnis, dass Entnazifizierung in Deutschland nie stattgefunden hat, wie die Initiative Entnazifizierung Jetzt in einer Recherche zu 900 Skandalen mit Nazis und Rassist:innen in deutschen Behörden zeigt. Eines von vielen für Betroffene besonders schmerzhaften Beispiele nationalsozialistischer Kontinuitäten ist Kurt Ferdinand Hugo Krause. Als Kriminalinspektor war er Leiter der „Z-Dienststelle“ bei der Hamburger Polizei während des Nationalsozialismus. Damit war er einer der Hauptverantwortlichen für die Deportationen von Sinti:ze und Rom:nja von Hamburg aus. Er erstellte die Deportationslisten derer, die unter seiner Aufsicht im Frachtschuppen C des Hamburger Hafens inhaftiert und später in den Tod geschickt wurden. Nach der Kapitulation und Kriegsende am 8. Mai 1945 konnte er seinen Dienst in der Hamburger Behörde ohne Weiteres fortsetzen. Die britische Militärbehörde ernannte ihn zum Kommandeur der Hamburger Polizei.

Überlebende, die zu dieser Zeit aus den Lagern zurück nach Hamburg kamen, mussten sich unmenschlichen Befragungen stellen in denen „überprüft“ wurde, ob sie Anspruch auf „Entschädigungsleistungen“ hatten. Dabei saßen sie wieder Kurt Krause gegenüber, dem Mann, der wenige Jahre vorher ihre Deportation organisierte. Erst auf vielfache Beschwerden überlebender Sinti:ze und Rom:nja hin kam es zur Anzeige und schließlich zu drei Jahren Haft für Krause. Er kam jedoch nach zwei Jahren bereits wieder frei und wurde als „entlastet“ eingestuft, womit er seine Arbeit bis zum Ruhestand wieder aufnehmen konnte. Krauses Geschichte sei kein Einzelfall, sagt die Leitung des Rundgangs, und ich glaube ihr.

Was sehen wir, wenn wir durch die HafenCity laufen und worauf ist sie gebaut?

Nguyen schreibt „civilizations are built on forgotten barbarism toward others, the heart of darkness beats within“ (Zivilisationen sind auf vergessener Barbarei gegen andere gebaut und tief in ihnen schlägt das Herz der Dunkelheit). Die strahlenden Fassaden, Luxusgeschäfte, und geschniegelte Menschen in teuren Autos lassen kaum auf die dunkle Geschichte des Stadtteils schließen. Die Geschichte des Hannoverschen Bahnhofs und der langwierige Kampf für einen angemessenen Gedenkort fügt sich widerspruchslos in ein breiteres Panorama historischer Amnesie der Stadtplanung in der HafenCity. Dabei wird neben der NS-Geschichte auch die Kolonialgeschichte gänzlich verdrängt.

Eine Definition der Stadt als post-modernes Gebilde, das geschichtslos und vorgeplant in der Form einer urbanen Insel zu entstehen scheint, riskiert nicht nur, die dominanten Stadtnarrative (erneut) zu romantisieren und zu reproduzieren. Auch die historischen und semantischen Kontinuitäten in Verwaltung und Gestaltung des Stadtraumes bleiben dadurch unbeachtet.

Tania Mancheno in „Hamburg: Tor zur kolonialen Welt“

Im Fall des Hannoverschen Bahnhofs wird deutlich, dass die Stadt Hamburg der Gestaltung von Gedenkorten wenig Bedeutung zukommen lässt. Wie im Fall der Wintershall Dea siegen Kapitalinteressen und machen den Stadtteil mit seinen Bürogebäuden, Luxusboutiquen und -restaurants zum Ort des Konsums und des Vergnügens. Abgekoppelt von ihrer Geschichte scheint die HafenCity nahezu „frei von Zeit und Raum“ zu existieren, so bringt Mancheno es auf den Punkt. Einzelne Gedenkorte, die meist ausschließlich auf Initiative von Betroffenen hin entstehen, bieten zwar wichtige inszenierte Pausen und brechen mit dem postmodernen Stil des Stadtbildes, insgesamt überwiegt aber eine sterile Semantik der Amnesie. Wie sonst wäre es möglich, dass ich schon etliche Male im Lohsepark meine Nachmittage verbracht habe – ohne die geringste Ahnung über die Schicksale der Sinti:zze und Rom:nja die von hier aus in den Tod geschickt wurden.

Unter dem Stadteilkonzept „Tor zur Welt“ präsentiert sich das Viertel am Hafen als kosmopolitisches Zentrum für „Weltenbummler:innen. Dabei werden geschmacklos koloniale Begriffe wiederbelebt wie beispielsweise bei der Benennung des „Überseequartiers“ oder im Werbeslogan „Wohnen für Pioniere“. Sämtliche öffentliche Plätze sind dabei nach Weißen Kolonialrassisten wie Amerigo Vespucci oder Christopher Columbus benannt. Damit wird die HafenCity zur Insel „die den europäischen Kolonialismus als lokales und globales Erbe romantisiert“, so Mancheno. Auf der Versklavung tausender von Menschen in den Kolonien und der Zwangsarbeit von Jüd:innen, Sinti:zze und Rom:nja sowie anderer Minderheiten gebaut, gilt die HafenCity heute als Vorzeige-Prestigeprojekt Hamburgs, in deren polierten Glasfassaden sich nichts als Geschichtsamnesie spiegelt.

With neither ethical principles nor an awareness of our implication in power, we are tempted to take up the humanist cry of remembering humanity against an inhuman state, conveniently forgetting that an inhuman state would not exist without the inhumanity within man, and vice versa. The state, of course, is us.

(Eigene Übersetzung: Ohne jegliche ethische Grundsätze und ein Bewusstsein unserer eigenen Verantwortung innerhalb von Machtstrukturen sind wir versucht, den humanistischen Schrei der Erinnerung an die Menschlichkeit gegenüber einem unmenschlichen Staat zu erheben, wobei wir bequemerweise vergessen, dass ein unmenschlicher Staat ohne die Unmenschlichkeit seiner Bürger:innen nicht existieren würde und umgekehrt. Der Staat, das sind natürlich wir.)

Viet Thanh Nguyen, „Nothing ever dies“

Eigentlich wurde mir in der Schule immer klar gemacht, dass in Deutschland die Vergangenheit stets gegenwärtig ist. Vergangenheitsbewältigung steht dabei an erster Stelle. Während ich nach dem Rundgang am Hannoverschen Bahnhof noch einen Augenblick am Lohsepark stehe, bleibt in mir ein beklemmendes Gefühl zurück; irgendwie ohnmächtig fühle ich mich. Der unbeschwerte Trubel rundherum lässt sich schwer mit dem vereinbaren, was ich gerade erfahren habe und ich lese noch einmal die kleine Gedenktafel am Eingang.

„Zwischen 20.05.1940 und 14.02.1945 verließen nachweisbar 20 Deportationszüge den Hannoverschen Bahnhof am Lohseplatz. Mindestens 1264 Sinti:zze und Rom:nja und 5848 Jüd:innen wurden in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager in Ost- und Mitteleuropa gebracht. Fast 90% der Menschen wurden ermordet oder gingen an den elenden Lebensbedingungen zugrunde. Über Proteste der Hamburger Bevölkerung gegen die Deportationen ist nichts bekannt.“

Shlica Weiß, deren Großeltern antiziganistisch verfolgt und in das Zwangsarbeitslager Belzec deportiert wurden sagt über das denk.mal des Hannoverschen Bahnhof:

Dieser Gedenkort bedeutet für mich eine Erinnerung, an das, was meine Menschen durch den Nationalsozialismus erleben mussten, Ausgrenzung, Entrechtung, Vernichtung. Dieser Ort ist ein Beweis dessen. Um es mit den Worten meines Großvaters, der zu den Überlebenden gehört, auszudrücken, Gedenkorte sind wichtig und richtig, aber genauso wichtig ist es, dass unsere Geschichte endlich in den Köpfen der Menschen ankommt.

Shlica Weiß

Solidarität mit allen antifaschistischen Erinnerungskämpfen!

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