Vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine steht Europa so eng zusammen wie seit Jahren nicht mehr. Spätestens seit dem Besuch von Kanzler Scholz und seinen Amtskollegen Macron und Draghi in Kiew herrscht in der Europäischen Union ungewohnte Einigkeit über den Beitrittskandidatenstatus des Landes. Kritiker werfen der Ukraine aber noch mangelnde Rechtsstaatlichkeit und einen wachsenden Autoritarismus vor. Ist die Ukraine bereit für Europa? – Und ist Europa bereit für die Ukraine?
Am 21. November 2013 begannen auf dem Maidan im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew die Proteste, die das Land für immer verändern werden. In den kommenden Wochen und Monaten werden teils über eine Millionen Protestierende gleichzeitig für eine Annäherung an Europa kämpfen. Die Regierung unter Präsident Wiktor Janukowytsch hatte kurz zuvor ein Assoziierungsabkommen mit der EU in letzter Sekunde gekippt, es wäre zumindest ein förmliches Bekenntnis zum Westen gewesen. Nun käpfte der russlandfreundliche Präsident mit der vollen Staatsgewalt gegen seine eigene Bevölkerung. In Straßenkämpfen und bei friedlichen Protesten starben bis zum 21. Februar mehr als 100 Ukrainer:innen.
Dann floh Janukowytsch aus der Hauptstadt und machte so unfreiwillig Platz für eine neugewählte Regierung. Die Euromaidan-Bewegung hatte gesiegt – Das Selbstverständnis der heutigen Ukraine basiert seit dem auf der Neuorientierung gen Westen. Seit 2019 ist der EU-Beitritt als Ziel sogar in der ukrainischen Verfassung festgelegt.
Automatisch entzog sich die Ukraine damit aber auch der russischen Einflusssphäre, ein Umstand, der Wladimir Putin noch 2014 zu einer völkerrechtswidrigen Invasion veranlasste. Jetzt, wo das volle Ausmaß des Angriffskrieges erreicht ist, ist die Partnerschaft mit der EU für die Ukraine bedeutender denn je. Ohne tschechische Panzer, französische Geheimdienstinformationen oder deutsche Panzerhaubitzen wäre das ukrainische Militär vermutlich nicht in der Lage, das Land zu verteidigen.
Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union bedeutete aber eine ganz neue Dimension der Zusammenarbeit. Was häufig übersehen wird: Ähnlich wie die NATO ist auch die EU ein Verteidigungsbündnis. Im Mitgliedsvertrag der EU heißt es: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung.“ Damit kann die Ukraine nicht EU-Mitglied werden, während der Krieg mit Russland noch stattfindet. Schließlich müsste dann die gesamte EU – und damit auch die NATO – gegen Russland eingreifen. Die Folge wäre ein Dritter Weltkrieg.
Bevor die Ukraine also in die EU aufgenommen werden kann, muss der Krieg beendet sein – Ein Grund für Putin, nicht aufzugeben. Ein EU-Beitritt der Ukraine wäre das Worst-Case-Szenario für den russischen Präsidenten, sein Zugriff auf die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine wäre damit endgültig verspielt.
Doch trotz der Sicherheitsbedenken herrscht unter den EU-Staaten eine ungewöhnliche Einigkeit. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte gegenüber einer Reporterin von euronews: „Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns. Sie sind einer von und und wir wollen sie drin haben!“ Außergwöhnlich deutliche Worte für die sonst eher zurückhaltend kommunizierende Von der Leyen. Sie will Russland beweisen, dass militärische Angriffe gegen Westen mit Verlusten enden. Ein EU-Beitritt dauert ohnehin in der Regel etwa zehn Jahre. Das gibt dem Land ausreichend Zeit, die Kriterien der Europäische Union zu erfüllen. Dazu gehören stabile, demokratische und rechtsstaatliche Institutionen, eine konkurrenzfähige Marktwirtschaft und die Aufnahme von festen Handelsverträgen und Abkommen, Richtlinien und Verordnungen in das eigene Recht.
Erste EU-Länder – allen voran Slowenien und Polen fordern jedoch bereits, diese Kriterien aufzuweichen, um die Ukraine schneller aufnehmen zu können. Dies hat vermutlich zwei Gründe: Einerseits wollen sie sich weiteren Aggressionen Russlands in den Weg stellen, andererseits ließen ihnen aufgeweichte Maßstäbe mehr Raum für eigene Politik jenseits der Rechtsstaatlichkeit.
Auch wenn die Motivation zu Veränderung in der ukrainischen Bevölkerung so groß sein dürfte, wie in keinem anderem Beitrittskandidatenstaat, sind das große Aufgaben für ein Land, in dem Korruption noch immer zur Tagesordnung gehört. Außerdem bedeutete ein EU-Beitritt die Abgabe bestimmter Souveränitäten. Angesichts eines erstarkende rechten Flügels in dem Land ist es nicht geklärt, ob die Ukraine zukünftig bereit sein wird, Urteile von europäischen Gerichten zu akzeptieren. Polen und Ungarn zeigen, wie rechte Vorstellungen und Nationalverständnisse zu innereuropäischen Konflikten führen können.
Ohne Zweifel würde ein Beitritt der Ukraine mit ihren 42 Millionen Einwohnern die Europäische Union verändern. Die Ostflanke des Bündnisses würde deutlich gestärkt, die seit dem Brexit ohnehin geschwächte Koalition der klassischen Industrienationen Frankreich, Deutschland und Italien würde weiter an Einfluss verlieren. Vor allem auch deshalb, weil neben der Ukraine auch Albanien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei auf der Liste der Beitrittskandidaten stehen. Außer Moldau warten diese Länder bereits sehr lange auf einen Beitritt, erfüllen die Bedingungen zum Teil sogar. Mit Ausnahme von der Türkei, mit denen Verhandlungen mittlerweile aufgrund der immer weiter sinkenden Rechtsstaatlichkeit abgebrochen wurden, haben diese Länder den Anspruch, vor oder mit der Ukraine in die EU aufgenommen zu werden. Sie alle liegen in Osteuropa und würden das Ungleichgewicht in der Europäischen Union weiter ausbauen.
Ein Eilverfahren, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj es sich gewünscht hatte, wird es für die Ukraine nicht geben. Zu groß ist das sicherheitspolitische Risiko. Doch langfristig sieht derzeit alles danach aus, als würde die Ukraine ungefähr zum Wechsel des Jahrzehnts tatsächlich EU-Mitglied werden können. Auf dem Weg dahin wird sich die Ukraine verändern müssen. Und auch die Europäische Union muss aufpassen, dass sie ihre Grundsätze dabei nicht noch weiter überwirft und damit die europäische Grundidee aufgibt. In jedem Fall wird Europa größer werden.