– Über den Fachkräftemangel und die warum die 42-Stunden-Woche nicht funktionieren kann
Kommentar
Man könnte meinen, ganz Deutschland mache Urlaub und niemand arbeite mehr. Denn so sieht die aktuelle Realität aus: Ferienhäuser und Hotels sind ausgebucht, Mietwagen nur noch zu horrenden Preisen zu bekommen und Flüge so teuer wie lange nicht mehr. Dafür fehlt es an allen Ecken und Enden an Personal: In der Pflege, in der Gastronomie, auf dem Rollfeld.
1,7 Millionen Stellen sind in Deutschland derzeit unbesetzt – so viele wie noch nie. Ein Grund dafür ist die Corona-Krise, in der sich viele gekündigte Arbteiskräft aus Gastronomie und Tourismus neue Jobs in anderen Branchen suchten und jetzt an ihrem ursprünglichen Arbeitsplatz fehlen. Der zweite Grund ist ein seit Jahren bekanntes Problem: Der Fachkräftemangel.
Eigentlich ist ein Mangel an Fachkräften überraschend, denn im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern ist in Deutschland die Ausbildung keineswegs ein Berufsweg der zweiten Klasse. In vielen Ländern ermöglicht inzwischen fast nur noch eine akademische Ausbildung den Zugang zu guten Tätigkeiten und die Berufsausbildung wird als letzte Chance für Schulversager*innen abgestempelt. In Deutschland ist das anders: Hier gilt eine Ausbildung zur Fachkraft weiterhin als ein effektiver und von der Wirtschaft geschätzter Weg. Unsere Ausbildungsstärke ist unter anderem mitverantworlich dafür, dass Deutschland wirtschaftlich mit Wettbewerbsstärke glänzt. Während in den USA und Großbritannien die mittlere Führungsebene oft mit Hochschulabsolvent*innen besetzt sind, die dank einer breiten theoretischen Ausbildung überqualifiziert und ihrem Mangel an praktischem Wissen gleichzeitig unterqualifiziert sind, sitzen in Deutschland überwiegend Beschäftigte in der mittleren Führungsebene, die eine Berufsausbildung mit einer Aufstiegsfortbildung ergänzt haben. Primär ist es also erstmal ein gutes Zeichen, wenn Fachkräfte gesucht werden, anstatt mit unzureichend ausgebildeten Arbeitskräften mittelmäßige Lösungen zu entwickeln.
Doch wenn eine Fachkräftemangel festgestellt wird, ist es meistens schon zu spät.
Generell unterscheidet man zwischen drei Arten des Mangels: 1. Der Arbeitskräftemangel – hier fehlen Beschäftigte aller Art, also auch Personen ohne berufsqualifizierenden Abschluss. 2. Der Fachkräftemangel – in diesem Fall konzentriert sich der Mangel auf Arbeitskräfte, die einen erfolgreichen Abschluss nachweisen können und mit guten Qualifikationen ausgestattet sind. 3. Der Personalmangel – dieser bezieht sich nicht auf den regionalen oder nationalen Arbeitsmarkt, sondern auf einzelne Unternehmen oder Gruppen von Unternehmen, die Arbeits- und Fachkräfte nicht halten können, obwohl es theoretisch genügend geben würde. Das ist oft der Fall, wenn Bezahlung und Arbeitsbedingungen zu unattraktiv sind.
Wird über einen Mangel geklagt, heißt das noch nicht, dass auch ein Mangel besteht. Häufig zeigen sie nur prekäre Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung auf. Insbesondere Klagen im Niedriglohnsektor, spiegeln den Anspruch von Unternehmen wider, Fachkräfte zu geringen Löhnen zu beschäftigen. Da wir in einer Martkwirtschaft leben, drückt sich Knappheit üblicherweise in steigenden Preisen aus. Wäre Arbeitskraft ein Produkt wie Speiseöl, dann müssten als Folge eines Mangels, die Preise (also die Löhne) ansteigen. Davon ist (mal abgesehen von der gesetzlich beschlossenen Mindestlohnerhöhung) bisher nicht viel zu sehen. Ein trauriges Beispiel dafür ist das Pflegepersonal am Uniklinikum Münster. Seit Jahren klagen die Angestellten dort über schlechte Bezahlung, Überarbeitung und mangelnde Wertschätzung. Immer wieder gehen sie in den Streik – doch es ist schwer, die Arbeit niederzulegen, wenn daran buchstäblich Menschenleben hängen. Dies wird dem Pflegepersonal zum Fallstrick – ihre Bemühungen blieben bisher erfolglos.
Die Situation der Pflege zeigt: Es mangelt in unserer Gesellschaft an Wertschätzung, wenn es um die Pflege von Kindern, alten Menschen oder Kranken geht, also all jenen, die nichts zur Wirtschaftsleistung beitragen können.
Am besten bezahlt wird in Deutschland jene Dienstleistungsbranche, die sich am meisten um Geld und am wenigsten um Menschen kümmert: Banker und Versicherer. Wer die Prioritäten so herum setzt, darf sich nicht wundern, wenn zu wenig Absolventen soziale Berufe ergreifen.
aus: Deutschland ist selbst schuld am Fachkräftemangel – Kommentar von Alexander Hagelüken, Süddeutsche Zeitung, Januar 2018
Wo also die Arbeitskräfte hernehmen, wenn in Deutschland niemand zu solch prekären Bedingungen arbeiten will? Eine vielversprechende Möglichkeit stellt die Zuwanderung von außen dar. Laut der Bundesagentur für Arbeit bräuchte Deutschland jedes Jahr 300.000 Qualifizierte von außen. Eigentlich eine gute Sache; an fähigen Arbeitskräften, die gerne nach Deutschland kommen würden mangelt es nicht. Allerdings mangelt es an Gesetzen. Ein Einwanderungsgesetz, mit welchen sich gezielt ausländische Fachkräfte würden anwerben lassen, wurde von CDU und CSU mehrere Dekaden lang blockiert, bis sie sich anschließend auf eine Obergrenze versteiften.
Auch das deutsche Bildungssystem trägt nicht gerade zur Förderung von Fachkräften bei. Leider hängt es immer noch stark von der Herkunft ab, wer welchen Abschluss und später welchen Beruf übernimmt. Kinder von Akademikereltern gewinnen das Spiel um die Karriereleiter, während sozial Benachteiligte weiter ungefördert bleiben. Eine Reformierung des Bildungssystems und eine Investition in Schulen in Problemvierteln ist daher ein absolutes Muss.
Die Idee des 42-Stunden-Woche gegen den Fachkräftemangel
Gut, wenn nun also keine neuen Kräfte einwandern dürfen, niemand Jobs zu schlechten Bedingungen aufnehmen will und die Schulen weiter diskriminieren, dann müssen eben diejenigen mehr machen, die bereits einen Arbeitsvertrag haben. So zumindest muss es im Kopf von BDI-Chef Siegfried Russwurm vorgegangen sein, als er die Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden vorschlug – und daraufhin schallende Kritik erntete.
Der Vorschlag der 42-Stunden-Woche kommt gleichzeitig mit den ersten Versuchen, eine 4-Tage-Woche zu etablieren und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Junge Menschen entscheiden sich heute nicht mehr aufgrund des Geldes für einen Job. Vielmehr suchen sie eine sinnstiftende Aufgabe, die Förderung psychischer Gesundheit und die Vereinbarkeit ihres Berufs mit der Familie. Zwei Stunden mehr in der Woche sind mit zwei von drei dieser Vorstellungen nur schwer vereinbar. Während sich das Familienbild wandelt, mehr Frauen Karriere machen und mehr Männer ihr Baby häufiger als nur schlafend am Abend sehen wollen, scheint die Industrie und die Politik in der Vergangenheit stehen geblieben. Unsere bestehenden Gesetze werden von Vorstellungen aus dem letzten Jahrhundert geprägt: Heute arbeiten zwar mehr Frauen als noch vor dreißig Jahren, doch der Staat nimmt ihnen als Zweitverdienerinnen durch das Ehegattensplitting so viel vom Lohn wie es kaum in einem anderen vergleichbaren Land der Fall ist. Nicht umsonst ist das Ehegattensplitting stark umstritten und Kritiker*innen fordern, es gleich hinter §219a, dem dem Verbot der Information zu Abtreibungen (einem weiteren Relikt aus vergangenen Zeiten) aus dem Fenster zu werfen.
Ob die 42-Stunden-Woche wirklich kommt, bleibt fraglich. Ob sie das Problem des Fachkräftemangels lösen kann, ebenso. Viel wichtiger ist jedoch, dass wir bereits gute Möglichkeiten haben, die Suche nach qualifizierten Arbeitskräften zu vereinfachen: ein Einwanderungsgesetz, die Reformation der Bildung, ein modernes Familienbild und bessere Arbeitsbedingungen. Wir brauchen keine neuen Stellen, sondern Konzepte, mit denen wir die Menschen wieder für Arbeit begeistern können. Gewerkschaften haben vor Jahrzehnten mit viel Schweiß und Kraft die 40-Stunden-Woche durchgesetzt. Wer will da freiwillig mehr arbeiten?