Tödliche Heilige Nacht

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Kommentar

Nations cultivate and would monopolize, if they could, both memory and forgetting. They urge their citizens to remember their own and to forget others in order to forge the nationalist spirit crucial for war, a self-centered logic that also circulates through communities of race, ethnicity, and religion.

Viet Thanh Nguyen, Nothing Ever Dies

Wenn Maria und Josef heute von Nazareth nach Bethlehem gehen würden, müssten sie 11 israelische Kontrollpunkte, einen „Sicherheitsstreifen“ und eine 8 Meter hohe Mauer überqueren – Willkommen im Heiligen Land. Was für ein Weihnachten war das dieses Jahr, das oberflächliches Gerede und Rechtsbelange in einer Weise fördert, die sich weigert, nicht nur die Verletzung des Völkerrechts, sondern auch die ethnische Säuberung, die Apartheid und den Völkermord an Palestinänser:innen anzuerkennen? Das Weihnachtsfest des rassistischen und verbrecherischen Zionismus des israelischen Regimes, das der ganzen Welt die Botschaft sendet, dass es in der Lage ist, an Heiligabend ohne Sanktionen ein Massaker in Echtzeit zu verüben, obwohl sich Millionen von Menschen und 153 Länder dagegen aussprechen?

In Jerusalem hielten die drei Religionen inne. Von dort aus richtete der Erzbischof von Jerusalem, Attallah Hanna, eine eindringliche Botschaft an alle Kirchen der Welt, in der er sie aufforderte, darüber nachzudenken, dass es keinen Sinn hat Weihnachten zu feiern, wenn man nicht auf Palästina eingeht. Keine Nacht des Friedens dieses Jahr denn während die Welt in friedlicher Besinnlichkeit Weihnachten feiert, mordet Israel weiter.

Ich fühle mich seit dem 7. Oktober ohnmächtig und voller Verzweiflung, bei jedem Blick nach Deutschland, auf antisemitische und antimuslimische Hetze vor dem Hintergrund der Gräueltaten die in Israel und im Gazastreifen verübt werden. Die deutsche Gleichgültigkeit gegenüber der völkerrechtswidrigen Blockade des Gazastreifens durch das israelische Regime seit 2007 und der Diskurs seit dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober können nur als Teil einer gescheiterten Erinnerungskultur verstanden werden. Was ist aus unserem so gelobten Staatsräson des Nie Wieder geworden? Nie wieder ist jetzt nimmt seit Israels Militäroffensive eine bittere andere Bedeutung an.

You Germans have long since betrayed your responsibility, the one “arising from the Holocaust”—that is, from the murder of my parents’ families, among others, and the suffering of the survivors. You betrayed it by your unreserved support for an Israel that occupies, colonizes, deprives people of water, steals land, imprisons two million Gazans in a crowded cage, demolishes homes, expels entire communities from their homes and encourages settler violence.

Amira Hass

Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Politiker:innen und Journalist:innen die militärischen Operationen der israelischen Regierung im Namen einer vermeintlich pro-jüdischen Staatsraison fast einhellig unterstützen – auch wenn diese Operationen bereits von der UNO kritisiert und von Expert:innen als völkermörderisch bezeichnet wurden. Wenn das Recht Israels auf Selbstverteidigung im Rahmen des Völkerrechts geltend gemacht wird, sollte auch betont werden, dass dasselbe Recht die kollektive Bestrafung einer gesamten Zivilbevölkerung sowie die Zerstörung ziviler Infrastruktur verbietet.

Völkermord

Einige Wissenschaftler:innen bezeichnen die systematische Besetzung und Bombardierung des Gazastreifens als Völermord. Andere lediglich als einen Bruch des Völkerrechts. Der israelische Holocaust- und Völkermordforscher Raz Segal nennt es einen Völkermord wie aus dem Lehrbuch, weil dieser von der israelischen Armee offen angekündigt worden sei. Außerdem betreiben israelische Sicherheitskräfte seit langem eine Zermürbungstaktik um palästinensischen Widerstand zu unterbinden, eine Taktik die sie „Mowing the Grass“ (den Rasen mähen) nennen und die in gezielten Ermordungen und gelegentlichen Bombardierungen besteht. Palästinenser:innen werden als Tiere bezeichnet, die von Wasser, Lebensmitteln, Strom und Treibstoff abgeschnitten werden sollten und wurden, fasst Aktivistin Elisa Baş die israelische Rhetorik zusammen. Bereits vor dem aktuellen Krieg im Gaza Streifen erklärte die UNO, Gaza sei nicht überlebensfähig. 97 % des Wassers war verseucht, die tägliche Kalorienzufuhr begrenzt und die Hälfte der Kinder zeigte keinen Lebenswillen, über 90 % der Kinder leiden an PTBS. Trotzdem ist weiterhin die Rede von einem Krieg der Selbstverteidigung ausschließlich gegen die Hamas. Wie können wir schweigend ein Fest der Nächstenliebe feiern, wenn 2,3 Millionen Menschen kollektiv zum Völkermord verurteilt werden?

 Israel, after 75 years, obstinately reiterates its foundational transgression: the very obliteration of Palestinians. Raining down 18,000 tons of explosives upon one of the world’s most densely populated regions surpasses mere reaction to the events of October 7; it signifies Israel’s weaponization of madness and assault on a world that dares to challenge the prevailing status quo of expansive settler colonialism and military occupation. 

Abdaljawad Omar

Der Katechismus der Deutschen

Was der Genozidforscher Dirk Moses zu sagen hat ist aktueller denn je. In seinem Artikel aus 2021 beschreibt er die deutsche Erinnerungskultur des Holocaust als religiösen Katechismus. Vor diesem Hintergrund scheint die vehemente Verdammung pro-palästinensischer und bereits nur pazifistischer Proteste in Deutschland als antisemitisch leider wenig erstaunlich, denn die Erinnerung an die Shoah als einmaliger Zivilisationsbruch ist zum moralischen Fundament der Republik geworden.

Der deutsche Katechismus begreift historische Gerechtigkeit als Transaktion zwischen identifizierbaren und stabilen Völkern: Statt Jüdinnen und Juden zu ermorden, sollten die Deutschen nett und weltoffen sein. Dieser Philosemitismus sieht Juden und Jüdinnen in Deutschland weiterhin als Gäste, nicht völlig deutsch, und er begreift die jüdische Gemeinschaft als Repräsentanten eines ausländischen Staats, nämlich Israels. Während diese Verbindung in der deutschen politischen Klasse sehr geschätzt wird, sollen muslimische Migrant:innen sich gefälligst nicht mit Muslimen im Ausland identifizieren, um nicht dem Dschihad Vorschub zu leisten. Die Bewältigung des Zivilisationsbruchs erlaubt es, eine neue Zivilisierungsmission zu proklamieren, in deren Rahmen Migrant:innen und deren Nachfahren dazu angehalten werden, sich mit dem deutschen Katechismus zu identifizieren, und nicht nur formell, sondern auch moralisch zu deutschen Staatsbürgern zu werden. Man fragt sich, wie diese Migrant:innen und ihre Nachfahren den deutschen Sinn für historische Gerechtigkeit empfinden, wenn er die Verteidigung einer seit mehr als fünfzig Jahren herrschenden Militärdiktatur, unter der die Palästinenser:innen zu leben haben, mit einschließt.

Dirk Moses

Sachsen-Anhalt hat ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels als Bedingung für die Einbürgerung bereits eingeführt und Bundesjustizminister Marco Buschmann plädiert dafür diese auf die gesamte Bundesrepublik auszuweiten – der Katechismus in seiner reinsten Form. Die sich aus der Shoah ergebende historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Jüd:innen wird dabei so interpretiert, dass sie eine kritische Auseinandersetzung mit der offen rechtsextremen Politik eines wichtigen geopolitischen Verbündeten verhindert. Überall in der Welt müssen Jüd:innen wieder Angst haben, müssen sich Fragen über ihre Zukunft stellen, weil der Begriff Antisemitismus so perfide verdreht wird, dass sie ihr Jüdischsein im Namen der rechtsnationalen israelischen Regierung für eine politische Ersatzidentität aufgeopfert sehen, die sowohl in Israel als im Ausland aber insbesondere in Deutschland einen Konformismus aufdrückt – entweder du bist loyal Israel gegenüber oder verrätst deine Identität. Kritische Wissenschaftler:innen richten sich in einem Brief an die deutsche Öffentlichkeit.

In Berlin ist die größte Community der palästinensischen Diaspora in Europa zuhause. Zu den verfassungsrechtlichen Pflichten der hiesigen Regierung gehört es, die Menschen in diesem Land zu schützen. Das gilt für palästinensische Jugendliche, die stattdessen mit der Indifferenz der deutschen Politik und weiter Teile der Öffentlichkeit gegenüber dem Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza konfrontiert sind und die nun unter Generalverdacht gestellt und von Politiker*innen mit Ausweisung bedroht werden. Das gilt für jüdische, israelische Regimekritiker*innen, deren Trauer und Bangen um Angehörige in ihrem Heimatland von der deutschen Politik und Öffentlichkeit vereinnahmt werden und deren Raum für öffentliche Anteilnahme ebenfalls beschränkt wird. Die Annahme, dass polizeiliche Repressionen und Einschränkungen der Grundrechte Schutz für diese Bevölkerungsgruppen gewährleistet, ist ein Irrglaube. Repression schürt Ressentiments. Gewalt erzeugt Gegengewalt und erschwert das solidarische Zusammenleben, das in Berlin an vielen Stellen praktiziert wird.

Brief aus Berlin

Außerdem verhindert der Katechismus ein historisches Verständnis der Politik des israelischen Regimes nicht aus religiösen sondern machtpolitischen Motiven. Deutsche Narrative verhindern ein Verständnis der Besatzungspolitik als imperialistisch, nämlich als Produkt der strukturellen kolonialen Gewalt europäischer Staaten sowie den USA innerhalb derer Israel als siedlungskoloniales Nationalstaats Projekt zu verstehen ist. Damit befinden sich indigene und unterdrückte Völker in einer scheinbar unmöglichen Situation. Wenn sie sich mit Gewalt wehren, werden sie gewaltsam niedergeschlagen. Tun sie das nicht, werden die Staaten über die weniger intensive, aber unerbittliche Gewalt, der sie ausgesetzt sind, hinwegsehen, schreibt Dirk Moses. Derzeit sind westliche und viele arabische Staaten bereit, die unerträglichen Zustände in Gaza und im Westjordanland auf unbestimmte Zeit zu tolerieren und gleichzeitig versuchen sie, einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten zu vermitteln, ohne die Belangen der palästinensischen Befreiungsbewegung anzuerkennen. „Das Beharren der internationalen Gemeinschaft auf Gewaltlosigkeit hat etwas Gewalttätiges an sich, denn es ist praktisch eine Einladung an die Palästinenser:innen, sich hinzulegen und zu sterben“, schrieb Abdaljawad Omar, Doktorand an der Birzeit-Universität in Ramallah, am 9. November.

In diesem Sinne muss auch betont werden, dass gewaltloser Widerstand gegen diese Zustände ignoriert und verteufelt wird. Viele US-Bundesstaaten und Deutschland kriminalisieren schon lange beispielsweise die BDS Bewegung als antisemitisch obwohl man ebenso gut argumentieren könnte, dass die Assoziation einer gewaltfreien Boykottbewegung, die von ihren Unterstützer:innen ausdrücklich als Alternative zum bewaffneten Kampf benannt wird, mit dem Holocaust, die eigentliche Definition des Holocaust-Relativismus ist. Aber nach der Logik der deutschen Erinnerungspolitik ist die Bewegung antisemitisch obwohl viele der Unterstützenden ebenfalls Jüd:innen sind. Der March of Return in Gaza von 2018 bis 2019 wurde mit israelischem Scharfschützenfeuer beantwortet, das 233 Menschen tötete und fast 6.000 Palästinenser:innen verletzte und verstümmelte. Lokale palästinensische Aktivist:innen, die sich für den gewaltfreien Schutz ihrer Gemeinden vor Siedler:innen einsetzen, wie Issa Amro in Hebron, werden von israelischen Behörden schikaniert. Der israelischen Regierung in diesem Moment bedingungslose Unterstützung zuzusichern, nährt nur die Illusion, die militärische Besatzung biete eine Aussicht auf Sicherheit und Frieden.

The historical record shows that, however terrible, violent anticolonial uprisings were invariably smashed with far greater violence than they unleashed. The violence of the “civilized” is far more effective than the violence of the “barbarians” and “savages.”

Dirk Moses

Dabei wird der Krieg Israels letztendlich auch für die israelische Zivilbevölkerung und vor allem für die Aussicht auf Frieden schwere Folgen haben. Letztendlich ist dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen die Menschen in Israel, wenn sich das Bild von Israels mörderischer Siedlungspolitik unter der falschen Gleichsetzung des Regimes mit der Zivilbevölkerung in das kollektive Gedächtnis einbrennt. Trotzdem schlägt Expansionismus wirkliche Sicherheitsbestrebungen.

„Importierter“ Antisemitismus und Anti-Deutsche

Vor dem Hintergrund zunehmend antisemitischer und antimuslimischer Gewalt werden in Deutschland Stimmen laut, die, begründet in rassistischen Logiken, den Antisemitismus Migrant:innen zuschreiben. Am Tag nach dem Anschlag der Hamas feierte die rechtsextreme AfD deutliche Wahlerfolge in den Bundesländern Bayern und Hessen. In Bayern wurde Hubert Aiwanger, der erst kurz zuvor als mutmaßlicher Verfasser eines antisemitischen Flugblatts zu neuer Berühmtheit gelangt war, erstmals direkt gewählt. Trotzdem wird die antisemitische Bedrohung in Deutschland vor allem in den Protesten gegen die Gewalt in Gaza verortet und der Kampf hierzulande gegen Antisemitismus für rassistische Stimmungsmache, für Autoritarismus und die Legitimierung der deutschen Abschiebepolitik instrumentalisiert. Diese erstere Tendenz fußt außerdem auf einem zutiefst ahistorischen Verständnis tief verwurzelten Antisemitismus in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft, der Polizei und der Legislative. „Radically Islamophobic views on the Israel-Palestine conflict have become mainstream as the country moves to criminalise support of Palestine as antisemitic after the recent flare-up in violence between Israel and Hamas“, schreibt James Jackson.

Dabei tun sich in Deutschland besonders die sogenannten Anti-Deutschen hervor, eine Bewegung, die ihre Wurzeln in der linksradikalen Opposition gegen den deutschen Staat hat. Heute ist sie besonders durch ihre bedingungslose Solidarität zu Israel und ihre Kritik an jeglicher Solidaritätsbekundung mit Palästina bekannt. Sogar Antikapitalismus und Antiamerikanismus werden von einigen Teilen mit Antisemitismus gleichgesetzt, womit die pseudo-linke Maskierung der Bewegung endgültig fällt. Die Bewegung, die ursprünglich das Ziel hatte, einen mörderischen deutschen Nationalismus zu verhindern, den sie durch die Wiedervereinigung fürchtet, schwenkt heute Israel Fahnen und verteidigt dessen Apartheids-Politik. Dabei reagieren einige aggressiv auf jüdische Antizionist:innen und vergleichen beispielsweise die friedliche BDS-Bewegung mit den Nazis. In diesen Tagen scheinen die Anti-Deutschen an Zulauf zu gewinnen und schon länger sind Unterstützer:innen in deutschen Institutionen angestellt wie beispielweise der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn.

Den Katechismus beenden

Masha Gessen, aktivistisch und schriftstellerisch tätige Person, sollte vor einigen Wochen den Hannah-Arendt-Preis verliehen bekommen, einen Preis den laut Gessen heute in Deutschland nicht mal mehr Hannah Arendt selbst bekommen würde. Wie Moses fordert auch Gessen, sich von dem Katechismus zu verabschieden, der seit jeher die angemessene Eingliederung von anderen Menschheitsverbrechen in unsere Erinnerungskultur verhindert. „Dinge, die während oder vor dem Holocaust passiert sind, mit Dingen zu vergleichen, die heute passieren, ist unsere beste Chance zu verhindern, dass der Holocaust sich wiederholt. Das ist mein prinzipieller Standpunkt. Das ist nicht als Provokation gemeint. Ich denke, wir haben eine moralische Verpflichtung, Vergleiche anzustellen“, so Masha Gessen. Diese und ähnliche Aussagen treffen bei den meisten Deutschen auf dogmatischen Widerstand und werden all zu oft mit dem Vorwurf der antisemitischen Relativierung des Grauens des Holocaust beantwortet. Unser so hochgelobtes „Nie Wieder“ scheint im luftleeren Raum zu verhallen während das unsägliche Scheppern der Bomben in Gaza hierzulande unter Weihnachtsliedern verklingt ohne unsere Gewissen wachzurütteln.

„Die ägyptische Grenze ist geschlossen, der Zaun um Gaza steht, das israelische Militär bombardiert Gaza“, so Gessen, „Was wird die Welt tun, um weiteres Sterben zu verhindern?“

Heba Abu Nada, palästinensische Aktivistin und Schriftstellerin, wurde am 20. Oktober in ihrem Zuhause in Gaza durch einen israelischen Luftangriff getötet. Eins ihrer letzten Gedichte ist dieses:

whole family trees falling,
no members left, no branches.
the tree and everything to it falls
heartrendingly
and gaza turns into a wasteland.

the city an open cemetery stretching
from the arab league’s doorstep
to the united nations’ podiums.

we submit ourselves to god
and stare at our graves
silent and heavyhearted.

.

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