Über Leichenberge – Putin und die Geheimdienste

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Fotoquelle: RIA Novosti archive/Oleg Lastochkin | (CC-BY-SA 3.0)

Nawalny, Skripal, Prigoschin – Mordanschläge auf Gegner seines Regimes gehören für Wladimir Putin zum politischen Alltag. Die enge Verknüpfung zwischen den Machtinteressen des Präsidenten und den Operationen der Geheimdienste sind eine der Säulen Putins Herrschaft. Sie schreckt ab und verkleinert systematisch das Konkurrenzfeld um den 71 jährigen Machthaber. Egal ob Gift, Flugzeug- oder Fenstersturz: Putins Handlangern sind alle Mittel recht, um die Macht ihres Präsidenten zu sichern. Dabei blicken sie auf eine lange Tradition zurück.

Der Tod Alexei Nawalnys war für viele ein Schock und dennoch kam er nicht überraschend. Dreieinhalb Jahre ist es mittlerweile her, dass Nawalny auf einem russischen Inlandsflug mit dem Nervengit Nowitschok vergiftet wurde und zusammenbrach. Wie durch ein Wunder überlebte er, wurde wenige Tage später in der Berliner Charité behandelt. Obwohl offensichtlich war, dass Nawalny aufgrund seiner politischen Ambitionen und seiner Kritik am belarussischen Machthaber Lukaschenko angegriffen worden war, entschied er sich für eine Rückkehr nach Moskau. Noch am Flughafen der russischen Hauptstadt wurde er verhaftet und nach anschließender Untersuchungshaft vor ein Gericht gestellt. Angeblich hatte er gegen Bewährungsauflagen aus einem früheren Prozess verstoßen. Spotlight schrieb damals über den Schauprozess. Nur drei Jahre nach Fällung des Urteils verstarb Alexei Nawalny Mitte Februar – angeblich nach einem Schwächeanfall.

Dass Wladimir Putin über die Leichen seiner politischen Gegner geht, um eigene Ziele zu erfüllen, ist kein Geheminis. Putin selbst war lange Zeit Offizier des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes KGB, davon auch viele Jahre in der damaligen DDR. Geheimdienstmethoden gehören seit jeher zu seinem Karriereweg. Dass möglicherweise aber bereits zu Beginn Putins politischer Karriere hunderte Zivilist:innen dem Machthunger des ambitionierten Geheimdienstlers zum Opfer gefallen sein könnten, scheint selbst im Westen aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein.

Eine Spurensuche.

Es fällt nicht leicht, über die Anschläge auf Moskau 1999 zu schreiben, ohne Gefahr zu laufen, in Verschwörungstheorien zu verfallen. Viele Interpretationen der Faktenlage sind spekulativ. In ihrer Summe zeichnen sie aber ein Bild, welches eine Geheimdienstoperation mehr als plausibel erscheinen lässt. Die hier wiedergegebenen Schilderungen entspringen hauptsächlich dem Buch Darkness at Dawn. The Rise of the Russian Criminal State des amerikanischen Journalisten David Satter (Financial Times) und der Aussagen des russischen Ex-Geheimagenten Alexander Litwinenko, welche er in seinem Buch Blowing up Russia. Terror from Within schilderte. Alexander Litwinenko starb 2006 im Londoner Exil, nachdem er mit radioaktivem Polonium vergiftet worden war.

Anfang August 1999 wird Wladimir Putin durch Präsident Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannt. Es ist ein entscheidender Moment in seiner Karriere, doch noch ist er nur die Nummer zwei der Russischen Förderation. Und so ist Putin auf der Suche nach einem Grund, seine Entschlossenheit demonstrieren zu können.

Am 31. August 1999 explodiert eine Bombe im Moskauer Einkaufszentrum Ochotny Rjad. 40 Menschen werden zum Teil schwer verletzt, eine Person stirbt. Fünf Tage später tötet eine weitere Bombe 64 Bewohner:innen eines Wohnhauses in Dagestan, einer Republik im Nordkaukasus, unter den Opfern sind viele Kinder. Am selben Tag finden Polizeibeamte eine weitere Bombe in einem LKW vor dem Krankenhaus der Stadt. Ihnen gelingt eine vermeintliche Entschärfung und sie finden den Pass eines Tschetschenen. In den Monaten zuvor hatten tschetschenische Unabhängigkeitskämpfer immer wieder mit Angriffen auf Russland für Schlagzeilen gesorgt. Zur Zeit der UdSSR war Tschetschenien Sowjetrepublik. In dieser Zeit fanden zahlreiche Repressalien gegen die überwiegend muslimische Bevölkerung statt. 1944 wurden etwa 500.000 Tschetschen:innen nach Zentralasien zwangsdeportiert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erstarkte die Unabhängigkeitsbewegung, welche zu Teilen äußerst brutal vorging. Und so wurden nach Auffinden des Passes umgehend tschetschnische Separatisten für die bisherigen Anschläge verantwortlich gemacht.

In der Nacht vom 8. auf den 9. September tötet eine Bombe 94 Menschen in einem Moskauer Wohnhaus. Auf der wenige Tage später stattfindenden Trauerfeier explodiert eine weitere Bombe und tötet 118 Trauernde. Innerhalb von zwei Wochen sind nun 277 Menschen durch Bombenattentate ums Leben gekommen. Wladimir Putin kündigt direkt im Anschluss an den Anschlag auf die Trauerfeier einen Krieg gegen die tschetschenischen Seperatisten an. Spätere Analysen zeigen, dass sich das russische Militär bereits Tage vor den letzten Anschlägen auf eine Invasion in Tschetschenien vorbereitete. Außerdem entspricht die Ausübung der Bombenattentate eigentlich nicht der typischen Vorgehensweise der Separatisten. In der Vergangenheit waren diese insbesondere durch Geiselnahmen aufgefallen, mit welchen sie direkte Ziele zu erpressen versuchten.

Drei Tage nach dem Anschlag auf die Trauerfeier tötet eine Autobombe 17 weitere Menschen in der Donregion. Daraufhin weitete Moskau seine Angriffe gegen Tschetschenien deutlich aus. Für sein scheinbar entschlossenes Vorgehen erntete Putin massive Popularitätsgewinne innerhalb der russischen Bevölkerung.

Nach den Anschlägen der vergangenen Wochen befindet sich ganz Russland in erhöhter Alarmbereitschaft. Da die meisten Bomben vor mehrstöckigen Wohnhäusern explodierten und ihre Opferzahlen mit der Zerstörung ganzer Stockwerke erreichten, gelten die russlandtypischen riesigen Wohnkoplexe als besonders gefährdet. Und so alamiert auch der Bewohner eines 13-stöckigen Hauses in Rjasan, südöstlich von Moskau, in der Nacht des 22. Septembers 1999 vorsichtshalber die Polizei, nachdem er zwei Männer dabei beobachtete, wie sie augenscheinlich extrem schwere Säcke in den Keller des Wohnhauses trugen. Die Polizei riegelte daraufhin umgehend die umliegenden Straßen ab und evakuierte die Gebäude. Und tatsächlich fand der Sprengstoffexperte der lokalen Polizei den Stoff Hexogen in den betroffenen Kellerräumen. Hexogen wurde auch bei den Anschlägen in Moskau verwendet.

Vermutlich aufgrund einer internen Kommunikationspanne veröffentlichte der russische Geheimdienst FSB jedoch kurz nach dem Fund ein Statement, in welchem er erklärte, die Vorgänge in Rjasan seien lediglich eine Übung gewesen. Der Sprengstoff in der Bombe sei tatsächlich Zucker gewesen, das Analysegerät des Sprengstoffexperten habe aufgrund eines Defekts falsche Werte angezeigt. Dieses Narrativ ist aus vielerlei Hinsicht wenig schlüssig. Warum wird so eine Übung nachts in einem Wohngebiet durchgeführt? Warum weiß die örtliche Polizei nicht Bescheid und warum sind keine FSB-Agenten vor Ort, die den Fall schnell gegenüber der Bevölkerung und der Polizei hätten entwarnen können. Warum stellte sich nach der vermeintlichen Übung heraus, dass das Fahrzeug, aus dem die Säcke ausgeladen wurden, zuvor gestohlen worden war? Warum wurde der angebliche Zucker im Anschluss auf einem Militärübungsplatz „entschärft“?

Staatliche Untersuchungen zu den Bombenattentaten machten schnell einzelne tschetschenische Kämpfer für die Anschläge verantwortlich. Für den Vorfall in Rjasan wurden die Untersuchungen etwa ein halbes Jahr später eingestellt. Bis heute gilt offiziell die Version einer FSB-Übung. Einige Parlamentsmitglieder der russischen Duma zeigten sich von den offiziellen Versionen jedoch wenig überzeugt. Der Einsatz eines Untersuchungsausschusses sorgte jedoch für weniger Klarheit und mehr Tote. So wurde der Leiter des Ausschusses erschossen aufgefunden, ein weiteres Mitglied und entschiedener Tschetschenienkriegsgegner wurde mutmaßlich vergiftet. Grundsätzlich häufen sich unnatürliche Todesfälle im Umfeld der Untersuchungen: Die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politowskaja wurde erschossen, der Oligarsch Boris Beresowski, welcher einen Investigativfilm über die Vorfälle finanzierte, starb durch einen vermeitnlichen Suizid, welcher von internationalen Rechtsmedizinexperten angezweifelt wurde. Der bereits zu Beginn erwähnte EX-FSB Agent Litwineko, welcher ein Buch über die Vorfälle schrieb, starb im Londoner Exil durch Gift. Weitere Kritiker:innen der offiziellen Version starben durch einen Bombenanschlag auf Zypern oder wurden inhaftiert. Außerdem auffällig: Ein Sprecher der Duma begründete den russischen Einmarsch in Tschetschenien mit dem Anschlag in der Donregion – drei Tage bevor dieser überhaupt stattfand.

Ist Wladimir Putin für die 294 Todesopfer der Anschläge 1999 verantwortlich? Wissen können wir es nicht. Klar ist: Geholfen haben sie ihm. Putins Umfragewerte schnellten in die Höhe, bis er im März 2000 überraschend bereits im ersten Wahlgang die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden konnte. Seit diesem Moment gilt Putin als unangefochtener Herrscher der Russischen Förderation. Die zahlreichen Ungereimtheiten und unnatürlichen Todesfälle rund um die Vorfälle im Spätsommer 1999, aber auch die Professionalität und Präzision vieler der Attentate machen eine Beteiligung der russischen Geheimdiente mehr als wahrscheinlich. Und angesichts der Skrupellosigkeit, die Putin in den vergangenen Jahren demonstrierte, hätte ihn sein Gewissen vor der Begehung solcher Angriffe wohl kaum abgehalten.

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