Wenn der „Zappelphilipp“ kein Kind mehr ist
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mir im Haus meiner Großeltern das erste Mal das Buch „Struwwelpeter“ in die Hände fiel. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereits lesen konnte oder nicht, an die Bilder des Buches erinnere ich mich jedoch umso lebendiger. Ein kleines Mädchen, das Feuer fängt und verbrennt, weil sie es nicht lassen kann, mit den Streichhölzern der Eltern zu zündeln. Ein Junge, der sich das Daumenlutschen nicht abgewöhnen kann und zum Schneider gebracht wird, der ihm dann mit seiner riesenhaften Schere die Daumen abschneidet.
Ich war froh, nie am Daumen gelutscht zu haben. Und Streichhölzer fasste ich erst Jahre später wieder an. Was als lehrreiches Kinderbuch vorgesehen war, stellte sich (zumindest für mich) als eine Sammlung verstörender Geschichten heraus. Und in Anbetracht einer jahrelangen Diskussion, ob das Buch verboten werden soll oder nicht, liegt es nahe, dass ich hier bei weitem nicht das einzige Kind gewesen bin. Zu der Diskussion beigetragen haben ebenfalls rassistische Inhalte, von denen sich dieser Blog distanziert und die nicht weiter thematisiert werden sollen. Hier geht es um die kritische medizinisch-psychologische Betrachtung der Geschichten.
Veröffentlich wurde der „Struwwelpeter“ 1845 vom Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann. Auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für seinen Sohn Carl Philipp entschloss er sich, ihm eigens ein Kinderbuch zu schreiben und zu zeichnen.
Der Sohn soll begeistert gewesen sein und die Familie drängte den Arzt, das Buch zu veröffentlichen. Nun war Carl Philipp aber wohl nicht nur der erstmalige Adressat des Buches, sondern auch dessen Inspiration. So nannte Heinrich Hoffmann einen seiner traurigen Protagonist:innen den „Zappelphilipp“. Ein Kind, das am Tisch nicht stillsitzen kann, mit dem Stuhl kippelt, das Gleichgewicht verliert und an der Tischdecke haltsuchend die aufgedeckte Mahlzeit auf den Boden befördert. (Für die Inspiration zum „Zappelphilipp“ gibt es aber noch andere Deutungsansätze.)
Neben den genannten Kindern sind im „Struwwelpeter“ außerdem die Geschichten des „Hanns Guck-in-die-Luft“ und des „Bösen Friedrich“ zu lesen. Ihnen und dem „Zappelphilipp“ können nach heutigem Wissensstand typische ADS- bzw. ADHS-Symptome zugeschrieben werden. Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. (Aus dem Englischen stößt man auch auf die Abkürzungen ADHD oder ADD.) Womöglich hatte der Arzt entsprechende Verhaltensweisen bei seinem Sohn und anderen Kindern beobachtet und zum Thema seines Buches gemacht. Heinrich Hoffmann identifizierte das Verhalten aber noch nicht als Teil einer Krankheit, sondern als kindlichen Ungehorsam.
Diese Auffassung ist zum Glück immer seltener geworden. Heute sind die Krankheiten ADHS und ADS der Wissenschaft bekannt und können behandelt werden. Fachärzt:innen sind sich weitestgehend darüber einig, dass es sich bei AD(H)S um eine Neurotransmitterstörung des Dopaminrezeptors handelt und die Krankheiten in den meisten Fällen (um die 80 Prozent) vererbt werden. Trotz der Bezeichnung und Anerkennung als psychische Erkrankung sind ADS und ADHS stigmatisiert und mit negativen Assoziationen behaftet. Dies mag mit Blick auf andere psychische Erkrankungen aber leider wenig überraschen.
Der Unterschied zwischen ADS und ADHS besteht übrigens in den Hyperaktivitätssymptomen, die bei letzterer Variante auftreten. Die Betroffenen können neben ADS-Symptomen wie Sensibilität und Verträumtheit u.a. Impulsivität, Ungeduld und eine niedrige Frustrationsgrenze erleben. Viele Symptome (z.B. schlechte Feinmotorik, eine geringe Konzentrationsfähigkeit oder eine mögliche emotionale Instabilität) können in beiden Fällen auftreten.
Eigenschaften vom „Zappelphilipp“ oder dem „Hanns Guck-in-die-Luft“ werden standardmäßig Kindern zugeschrieben. Dass aber auch Erwachsene ADS und ADHS haben können, ist weniger bekannt und noch immer umstritten. Oftmals klingen die Symptome mit Beginn der Pubertät oder mit Eintritt ins Erwachsenenalter nämlich ab. Doch das muss nicht sein. Wie viele Kinder ihre Symptome tatsächlich ein Leben lang erleben ist nicht endgültig erfasst. Denn Fälle im Erwachsenenalter werden erstens nur selten diagnostiziert oder zweitens erst viele Jahre nach der Kindheit erkannt, auch wenn die Krankheit dort bereits bestand.
Beide Fälle erleben oftmals einen langen Leidensweg. Denn die mögliche Impulsivität oder geringe Konzentrationsfähigkeit werden gegebenenfalls auf mangelnde Selbstdisziplin zurückgeführt und nicht, wie es eigentlich richtig wäre, als Teil einer Krankheit erkannt. Was Erwachsene dann erleben können, sind eine Überforderung mit Alltagsaufgaben wie Schwierigkeiten mit der Organisation von Terminen. Betroffene kommen oft zu spät, ihnen fällt es meist schwer, Rechnungen termingerecht zu begleichen und auch im Straßenverkehr und in romantischen Beziehungen kann es Probleme geben. Dies kann erhebliche Einbußen von Lebensqualität zur Folge haben.
Die Diagnose bei Erwachsenen ist schwieriger als bei Kindern, auch wenn dieselben Kriterien gelten. Für Erwachsene, die als Kinder keine Diagnose bekommen haben, gibt es einen speziellen Fragebogen, der bei der Diagnose helfen soll. Besonders tückisch ist hier nämlich die Verwechslung mit anderen Krankheiten, zum Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Manche Krankheiten können auch gemeinsam mit ADS und ADHS vorliegen oder davon verursacht werden. So wie Depressionen, Tic-Störungen oder Suchterkrankungen. Das erschwert die Diagnose.
Die Suchterkrankungen und Depressionen sind in der Regel eine Folge der AD(H)S-Erkrankung. Wenn der Alltag nicht wie gewünscht funktioniert, Aufgaben scheitern, die andere scheinbar mühelos meistern oder das Sozialleben an der vermeintlich unerklärlichen Impulsivität oder Sensibilität leidet, kommt es zu den krankhaften Bewältigungsmechanismen.
Alles steht und fällt mit der rechtzeitigen Diagnose. Diese ist der Schlüssel zur medikamentösen Behandlung, der richtigen Therapie und der persönlichen Auseinandersetzung mit der Krankheit und dem draus resultierenden Verhalten. Damit „Fehler“ nicht bei sich selbst gesucht werden und Akzeptanz einsetzen kann. Die Diagnose sorgt also für Erklärung und Erleichterung – kann aber auch vor das nächste Problem stellen.
Wie gehe ich mit der Diagnose um? Was sagen Freund:innen oder Arbeitgeber:innen dazu? Welches Bild entsteht bei anderen von mir? Zunächst gilt: Niemand muss mit der Diagnose offen umgehen. Das ist okay. Der Ruf der Krankheit eilt ihr voraus. Das Bild vom „Zappelphilipp“ hat sich in die Köpfe der Gesellschaft eingenistet. Was helfen kann ist die Erkenntnis, dass die Krankheit auch gute Seiten haben kann. Betroffene sind oft kreativ und mutig. Regeln können einen anderen Wert haben und auch mal im Guten gebrochen werden. Oft können Menschen mit entsprechenden Symptomen bei richtiger Förderung und dem richtigen Beruf Höchstleistungen erbringen und andere in Sachen Eifer und Engagement hinter sich lassen. Genannt „high-functioning-ADHSler“.
Behandelt werden müssen ADS und ADHS überhaupt erst nur, sobald ein Leidensdruck oder die Gefährdung der eigenen oder fremder Gesundheit vorliegt. Aber ebendann ist die Diagnose so wichtig und entscheidend. Denn gängige Verhaltens- oder andere Therapien schlagen nicht an. Es braucht eine gezielte Behandlung. Damit ein erfüllendes Leben möglich ist und Betroffene nicht Gefahr laufen an ihren Problemen und vermeidlichen Misserfolgen zu zerbrechen.
Es lohnt sich, sich über ADS und ADHS zu informieren und das eigene Bild der Krankheit zu hinterfragen. Es lohnt sich nicht nur, es ist eminent wichtig. Die Geschichten des „Struwwelpeter“ sind zwar eine erste Beschreibung der Symptome, jedoch ist der dargestellte Umgang damit völlig falsch und und das gezeichnete Bild schädlich. Angebracht sind Dankbarkeit gegenüber der Wissenschaft und die Eigeninitiative, sich über ihre Erkenntnisse zu informieren. Um den eigenen Mitmenschen ihr Leben (mit und ohne Diagnose) zu erleichtern. Denn das liegt in Sachen Gesellschaftlicher Akzeptanz allein an uns selbst.
Deshalb hier einige Anlaufstellen und Literaturlisten für Betroffene und Angehörige:
ADHS Deutschland e.V.: https://adhs-deutschland.de/Home.aspx
Infoportal ADHS: https://www.adhs.info
Literaturliste für Eltern: https://www.adhs.info/fuer-eltern-und-angehoerige/ratgeber-fuer-angehoerige/literatur-fuer-eltern/
Literaturliste für Partner:innen: https://www.adhs.info/fuer-eltern-und-angehoerige/ratgeber-fuer-angehoerige/literatur-fuer-partner/
Symptomliste für Erwachsene: http://www.adhs-deutschland.de/Home/ADHS/Erwachsene/ADHS-im-Erwachsenenalter.aspx
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